Es mag sein, dass ich hier zu persönlich schreibe und zu viel von mir preisgebe. Aber wie soll man sonst auf Missstände aufmerksam machen? Wie kann man der Welt begreiflich machen, dass das, was in vielen Krankenhäusern passiert, gefährlich ist?
Für Arzt und Patient. Ich war auch schon auf der anderen Seite, nämlich Patientin. Es ging mir schlecht und ich hatte tolle Ärzte, die sich Zeit nahmen und tolle Schwestern/Pfleger, die sich ein Bein für mich ausrissen.
Genau so war - und bin - ich eine Ärztin, die sich für ihre Patienten ein Bein ausgerissen hat. Und die gearbeitet hat, bis die Pumpe streikte.
Aus dem Takt
Gesegnet mit einer angeborenen Störung ist mein Herz in Stresssituationen nicht so stabil wie das Herz anderer Menschen. Aber als ehemalige Leistungssportlerin mit einer wöchentlichen Trainingszeit von 10 Stunden zu Spitzenzeiten, habe ich mein Herz auf Stress und Höchstleistung eingenordet.
Mein Herz kennt jeden Nebenjob dieser Welt, den man außerhalb des unbekleideten Gewerbes ausführen kann. Ich war zu Schulzeiten Babysitterin, Zeitungsausträgerin und Wurstverkäuferin. Ich arbeitete als Servicekraft, Studentenkneipenkellnerin, Discobarcocktailmischerin, Sektglasträgerin auf Finanztreffen, Tellerabräumerin, Weinwerbungsmodel, Röntgenbildeinscannerin, wissenschaftliche Hilfskraft, Pflegehilfe und gab Tutoriate in der Uni.
Mein Herz weiß, was Arbeit ist.
In der Klinik machte ich zwar bei Weitem nicht so viele Dienste wie meine Kollegen, die keine Familie hatten, aber schuftete im Schnitt pro Monat 36-48 Zusatzstunden, die ich nur am Wochenende ableistete, da meine Kinder sonst unter der Woche nicht versorgt wären.
Es begann mit Kopf- und Magenschmerzen, die der Tatsache geschuldet waren, dass die tägliche Arbeit ein permanenter Kampf darum war, ob man die in der Notaufnahme ankommenden Patienten irgendwie im Haus unterbringen konnte.
Ob man den Massen Herr (Frau?) werden kann.
Ob man wieder außerplanmäßig für einen Dienst eingeteilt wird, weil jemand krankheitsbedingt ausfällt.
Ob man diesmal pünktlich seine Kinder aus dem Kindergarten abholen kann oder wieder hektisch telefoniert, um eine Betreuung zu organisieren.
Ob überhaupt ein Kollege da ist, der Dich auslösen kann.
Gegen Kopf- UND Magenschmerzen sollte man KEIN Ibuprofen nehmen, das ist eigentlich hinlänglich bekannt. Aber es tut weh. Und man muss arbeiten. Also nimmt man Ibuprofen UND - ganz raffiniert- Pantoprazol oder einer anderen Säureblocker, um die Ibu-Schäden zu vermeiden. Arzt-Logik. Man vermeide nicht das auslösende Agens (den Stress), sondern arbeite mit Pillchen dagegen. Wozu hat man schließlich studiert.
Das funktionierte auch ganz gut - eine Zeit lang.
Dann wurden die Magenschmerzen schlimmer und ich erhöhte meine Säureblocker auf zwei Tabletten á 40 mg am Tag, auf Ibuprofen hatte ich schlauerweise schon länger verzichtet.
Und dann stolperte es. Einmal. Hm, hatte ich schon mal, nix Schlimmes.
Es stolperte wieder. Alles gut, macht nichts, hat jeder mal. Extrasystolen sind harmlos.
Mir wurde die Luft eng.
Es stolperte beim Arbeiten. Es stolperte beim Laufen. Als sei das gesamte System instabil. Jeder Schlag war wie ein Stromschlag und schmerzte, als würde mein Herz verkrampfen.
Eine Woche später bekam einen extra Dienst am Sonntag aufgebrummt. Als ich um 9 Uhr morgens los legte, war die Notaufnahme voll und die RTW’s standen Schlange. Das Stolpern wurde schlimmer.
Es stolperte beim Atmen, also atmete ich flach. Es stolperte beim Essen, also aß ich kaum noch.
In der folgenden Nacht konnte ich wieder nicht schlafen, weil jeder Extraschlag mich wach rüttelte. Eine Woche Schlaflosigkeit lag bereits hinter mir.
Am nächsten Tag ließ ich mich krankschreiben und saß beim Kardiologen.
Die Kardiologin, eine Spezialistin auf dem Gebiet der Herzrhythmusstörungen, sah mich an und sagte mit weicher, aber bestimmter Stimme: „Wir müssen mal überlegen, wann Sie endlich ihren Defi kriegen.“
Ich holte mir eine Zweimeinung. Eine Woche später lag ich im Krankenhaus und wurde dem Eingriff unterzogen.
Drei Wochen später arbeitete ich wieder. Keine Reha. Kein Ausruhen. Weiter im Programm.
Drei Monate später verließ ich endlich die Klinik als Arbeitsplatz.
Jetzt bin ich dankbar für mein elektronisches Tuning, denn ich fühle mich sicher damit. Mein Herz hat sich beruhigt und Sport ist wieder bis zur Höchstbelastung möglich.
Irgendwie Standard
Ich bin sicher nicht die Einzige, die gesundheitlich unter unserem System sehr gelitten hat.
Wieviele Kollegen (ich rede von Ärzten UND Schwestern) habe ich weinen sehen, vollkommen überfordert von den Anforderungen und den Massen an Patienten.
Wieviele Kollegen habe ich gesehen, die ihre Gesundheit vollkommen herunter wirtschafteten, weil sie entweder gar nichts aßen, zu viel rauchten oder ihre Ernährung auf Cola-Basis aufbauten.
Wieviele Kollegen fielen monatelang depressionsbedingt aus.
Wieviele hatten kaputte Familien, weil die Anforderungen sich mit einem gesunden Familienleben nicht vertrugen.
Wieviele sah ich nach der Arbeit zum Auto rennen, weil der Kindergarten gleich schließt.
Wieviele Oberärzte traten kräftig nach unten, weil sie die Verantwortung tragen müssen und auch keinen anderen Weg wissen. „Das Leben ist kein Ponyhof, Frau Doktor." Danke. Schon mal gehört. Vielleicht ein Zuckerwatteland?
Nein. Auch nicht. Schade.
Wie oft habe ich selbst nachts wach gelegen und hatte Angst vor dem nächsten Arbeitstag.
Wie oft habe ich meine Kinder angemeckert und gehetzt, weil sie morgens nicht schnell genug in die Gänge kamen.
Wie oft habe ich meine schlechte Laune an meinen Lieben ausgelassen.
Wie oft mich gefragt, ob es das alles wert ist.
Mein Senf dazu
Und was ist mein Fazit? Es ist es nicht wert. Punkt. Das Leben ist wertvoll. Aber solange wir uns alle in diesem System aufopfern, wird es auch keine Besserung geben.
Geht zu Euren Familien, knuddelt Eure Kinder, baut Gemüse an, freut Euch über Sonnenschein und ein Glas Aperol auf dem Balkon.
Arbeiten müssen wir alle, das Leben ist teuer. Aber wartet nicht, bis Euer Körper Euch eine verpasst.