Entsetzt schaut die alte Dame mich an. "Krankenhaus?! Das geht auf keinen Fall!" Die Stimme wird laut und sie rutscht unruhig auf dem Stuhl im Sprechzimmer hin und her.
Diese und ähnliche Reaktionen kenne ich aus der täglichen Arbeit, wenn man seinen Patienten unschöne Nachrichten überbringen muss. Nur, dass es hier nicht um die Dame geht. Der Patient, den ich einweisen will, ist ihr Mann.
Sie fährt aufgebracht fort, beinahe zornig: "Ich muss doch jetzt zum Supermarkt!" Die Stimme überschlägt sich, während ich selbst angesicht dieser Reaktion ein wenig mit meiner Fassung ringe.
Der arme Mann, der innerhalb einer Woche 7 kg zugenommen hat und voller Wasser ist, mit dicken Beinen und außer Atem, sitzt verwirrt neben seiner Frau und sagt keinen Mucks.
Beschwichtigend ergreife ich das Wort: "Sehen Sie Frau Zornigaufgebracht (Anm: Name geändert), Ihr Mann benötigt Hilfe. Er hat viel Wasser im Körper und sein Herz ist zu schwach. Das muss HEUTE in einem Krankenhaus behandelt werden."
Ihre Augen funkeln: "Und wer fährt mich dann zum Supermarkt? Und außerdem muss er heute die Beeren pflücken!"
Mit verschränkten Armen schaut sie mich trotzig an, während ich das Krankenhaus informiere und den RTW bestelle. Als sie gehen, steht sie noch genervt im Flur und man sieht ihr an, dass sie es nicht fassen kann, dass IHR so etwas angetan wird.
Von solchen und ähnlichen Geschichten
Es ist Standard:
Der Jugendliche, der in Begleitung des Elternteils kommt und von Leere und Trübsinn berichtet, woraufhin das Elternteil danach ausführlichst erzählt, dass es ja auch Depressionen habe und außerdem eine Autoimmunerkrankung und es ihm selbst so schlecht gehe. Es (das Elternteil) kenne das ja alles.
Die alte Dame, die freundlich und geduldig mit Herzklappenfehler und Luftnot auf den RTW wartet, während ihre Tochter mir von ihren Verdauungsstörungen berichtet.
Der blasse Patient mit Magenblutung, dem ich erkläre, dass er unbedingt HEUTE in die Klinik muss, wird von der Frau unterbrochen, dass ja nun auch sie mal an der Reihe sei. Sie habe schließlich Husten. Seit Tagen.
Die Patientin mit Krebs, die es ihren Angehörigen nun noch einmal mit ihrem leidvollen Tod heimzahlen will.
Vom Umgang mit Krankheit
Viele Menschen beziehen das Leid der Partner und Angehörigen auf sich selbst und fragen sich, warum IHNEN das widerfährt. Dabei ist der Erkrankte der Leidtragende.
Manchmal geht es nicht um einen selbst, sondern muss für andere Menschen stark sein. Dass es alls durcheinander wirbelt, muss man aushalten und sich selbst zurücknehmen. Viele Menschen sind von ihrem eigenen Leid so besetzt, dass eine Erkrankung des Menschen, der einem nahe steht, wie ein Affront empfunden wird und tatsächlich kann man von außen oft schwer einblicken, ob nicht alte Wunden und Streitigkeiten zwischen den Beteiligten Auslöser für ein solches Verhalten sind.
Wenn die zu pflegende Oma "mit Absicht" erkrankt, damit man sich um sie kümmert, kann es die Angehörigen in die Verzweiflung treiben. Tatsächlich steckt sehr viel Unbewusstes in den Reaktionen rund um das krank werden oder den Umgang mit den Erkrankten.
Vom Krankheitsgewinn
In der europäischen Krankheitskultur wird der Erkrankte von seinen Alltagspflichten befreit und erfährt in aller Regel Mitgefühl. Dieser "Primäre Krankheitsgewinn" sorgt dafür, dass man unangenehmen Situationen unbewusst aus dem Weg gehen kann.
Patienten im Krankenhaus verlieren plötzlich die Fähigkeiten, sich selbst zu versorgen, weil die Sorge der anderen Menschen gut tut und sie sich um nichts mehr kümmern müssen - "Sekundärer Krankheitsgewinn".
Der "Tertiäre Krankheitsgewinn" betrifft die Pflegenden, die sich durch die Krankheit des Angehörigen eine eigene innere Aufwertung verschaffen (unbewusst) und ihr Helfersyndrom bedienen.
Um keine Missverständnisse zu erzeugen: Die sind unbewusste Reaktionen. Die wenigesten Erkrankten machen es mit Absicht. Das Leid ist dennoch vorhanden, aber erfährt durch den Krankheitsgewinn eine gewisse Erleichterung. Auch die Pflegenden sind mit den Kräften am Ende, erfahren aber eine Genugtuung, weil es ohne sie nicht geht.
Mir persönlich fällt es manchmal schwer, auch diesen Menschen, die so offensichtlich nach Aufmerksamkeit suchen, diese auch zu geben. Aber es ist eben mein Job, also tue ich es.
Denn wahrscheinlich steckt nur ein Unvermögen der Angehörigen dahinter, seine eigenen Ängste um den Partner/das Familienmitglied und die damit verbundenen unangenehmen Gefühle zu verarbeiten.
Damit man das Leid nicht hören muss, erzählt man seine Geschichte.
Damit man die Situation versteht, vergleicht man sie mit seinem Leid.
Und damit man die Situation umgeht, besteht man auf das Vertraute und den Supermarkt-Besuch.
(Bild: Steinchen, Pixabay)