Erziehung ist ein allgemeines Gut. Es scheint jedenfalls so. Kaum hat man Kinder, verwirkt man jedes Recht auf Eigenständigkeit und jeder darf seine Tipps ungefragt an den Mann oder die Frau geben. Kinderlose, Rentner und Omas/Opas haben viel Spaß daran.
Ohoh, ich spüre schon den Sturm heraufziehen. Um aber gleich ein bisschen Wind aus den Segeln zu nehmen: ich möchte natürlich nicht verallgemeinern. Es gibt viele Menschen, die hauptberuflich mit Kindern zu tun haben und dadurch einen sehr geschulten und objektiven Blick auf Familien, deren Lebensweise und die Erziehung bekommen.
Aber...
Erziehung scheint generell etwas zu sein, das irgendwie jeder kann. Macht man ja irgendwie so intuitiv und kann ja nicht so schwer sein. Jeder hat etwas dazu beizutragen und mit Raunen und Kopfschütteln hinter deinem Rücken wird deine Vorgehensweise kommentiert.
Aber seien wir doch mal ehrlich: Erziehung lässt sich nicht planen.
Man kann sich noch so oft vorstellen, wie konsequent, wie streng, wie antiautoritär oder wie liebevoll man mit den lieben Kleinen sein wird.
Und dann kommt alles anders.
Dann ist man mit seinem Latein am Ende, lässt die Kinder zu viel fernsehen, bekommt einfach keinen Blumenkohl in sie hinein gefüllt oder brüllt die Wohnung zusammen, dass die Wände wackeln.
Um sich danach zu fragen, was zum Henker mit einem nicht stimmt.
Ich habe im folgenden Artikel ein paar klassische Situationen und die üblichen externen Reaktionen zusammen gefasst.
1. Das ungeborene Baby Käthe-Kathleen will nicht auf die Welt kommen
Es geht schon los. Das Baby ist noch nicht auf der Welt und scheint auch keine Anstalten zu machen, die mütterlichen Eingeweide zu verlassen. Es ist außerdem Schuld daran, dass Du aussiehst wie ein Nilpferd mit Krampfadern und nachts nicht mehr schlafen kannst.
„Globuli sollen da helfen“ spricht die Nachbarin. „Ein Cocktail aus Sekt, Himbeerblättertee und Rizinusöl leitet sanft die Wehen ein“, sagt Dr. Google.
Die tiefenentspannte Erstlingsmutter hyperventiliert ein wenig und schmeißt sich wirkungslose Zuckerpillchen ein, während sie unsinnigerweise in der Schwangerschaft am Sekt-Cocktail nippt. Käthe-Kathleen interessiert das herzlich wenig. Eventuell wird ihr vom Sekt etwas schummerig und sie beschließt, noch etwas zu schlafen.
Kinder kommen auf die Welt, wenn der richtige Zeitpunkt gekommen ist. Und falls sich Käthe-Kathleen zu viel Zeit lässt, wird der behandelnde Gynäkologe oder eine schwurbelfreie Hebamme die notwendigen Schritte einleiten.
2. Caitlyn schmeißt sich im Supermarkt auf dem Boden
Caitlyn ist 3 Jahre alt und möchte im Supermarkt eine Packung Kekse haben. Sie ist umgeben von all den leckeren Sachen, sie ist im Paradis. Aber sie muss in diesem Wagen sitzen und kann mit dem kleinen Ärmchen bloß auf die Objekte der Begierde zeigen. Damit Mama dies ignorierend daran vorbeiläuft. Und dann bekommt sie nicht mal eine Gelbwurstscheibe an der Wursttheke, weil sie die ganze Zeit soviel gebettelt hat und Mutter genervt ist. Das ist zuviel für Caitlyn. Sobald sie den Wagen verlassen hat, schmeißt sie sich weinend und schluchzend auf den Boden. Soll Mutter doch sehen, wie sie klarkommt.
Nun kann man auf drei Arten reagieren (und ich hab je nach Situation schon jede ausprobiert):
Man kann das Kind sich ausheulen lassen und die empörten Blicke insbesondere der Rentner ignorieren, die sich in ihrem Morgeneinkauf gestört fühlen. Nach 10 Minuten wischt Caitlyn sich die Rotze aus dem Gesicht und hat keine Lust mehr auf Heulen auf dem kalten Boden, geht zu Mama und diese nimmt das Kind in den Arm.
Alternativ hebt man das Kind einfach auf und trägt es unter Schreien und Zappeln ins Auto, bekommt verklebte Speckfingerchen ins Auge und einen Hörsturz gratis. Die Rentner auf dem Parkplatz sind empört ob der Lärmbelästigung.
Variante drei: Das Kind im Supermarkt beruhigen, ihm die Kekse kaufen, knuddeln und die genervten Blicke der Rentner ertragen. „So kriegt das Kind nur seinen Willen!“ Ja. Und der Rentner, der sich an der Kasse vordrängelte, weil er keine Zeit hat, bekam auch seinen Willen.
Man kann es nicht richtig machen.
3. Der 5jährige Noah macht nachts noch ins Bett
Ein heikles Thema. Dabei so vollkommen normal. Und dennoch wird es wild diskutiert und jeder weiß etwas dazu zu sagen.
Eine Entwicklungsverzögerung? Ein seelisches Trauma? Fehlendes Urvertrauen? Totalversagen der Eltern gar?
„Das sind die Hormone! Da muss man was tun.“
„Das macht Noah, um Euch zu kontrollieren und nachts Aufmerksamkeit zu bekommen.“
„Ich würde den einfach liegen lassen. Wenn er ein paar Mal merkte, wie unangenehm das ist, dann macht er das nicht mehr.“
Nein. Noah macht das nicht aus bösem Willen und Noah wird es auch nicht trocken, weil man ihn würdelos in seinen Ausscheidungen liegen lässt. Noah schläft entweder zu tief oder seine nächtliche Hirn-Blase-Verbindung ist noch nicht ausgereift. In ganz seltenen Fällen fehlt Noah das Hormon ADH, das kann ein Kinderarzt beurteilen. Doch meistens gibt sich das nächtliche Einpullern von ganz alleine. Auch ohne schlaue Tipps und suspekte Maßnahmen.
4. Finn-Leonard will keinen Blumenkohl essen
„Früher haben wir gegessen, was auf dem Tisch kam!“
Ja, deswegen bin ich sehr dankbar, dass wir heutzutage keinen Hunger mehr leiden müssen.
„Er darf Euch seinen Willen nicht aufdrücken.“ Da ist er wieder. Der unbeliebte freie Wille des Kindes.
Natürlich ist es wenig ratsam, Finn-Leonard daran zu gewöhnen, dass er das Käsebrot mit Karacho vom Tisch fegen kann, weil er lieber Marmeladenbrot möchte. Aber ihm den Blumenkohl reinzuzwängen, obwohl er ihn verabscheut, während Papa am Tisch den Salat ablehnt und Mama keine Blutwurst essen will, macht auch keinen Sinn.
Kinder lernen durch Vorbilder. Und wenn Finn-Leonard sieht, dass Mama und Papa Blumenkohl immer und immer wieder essen, dann wird er diesen vielleicht irgendwann auch mögen. Geschmäcker verändern sich. Und wenn nicht - dann isst das Kind eben keinen Blumenkohl. Keiner isst alles gerne.
5. Baby Brian schläft mit 4 Wochen noch nicht durch
Frechheit. Diese Babys heutzutage.
„Lass ihn schreien. Das kräftigt die Lungen!“
„Wie, er schläft schon im eigenen Zimmer? Kein Wunder, dass er sich alleine fühlt. Das Urvertrauen leidet.“
„Die Koliken, du weißt! Gib ihm CarumCarvi-Zäpfchen. Oder Virbucol (Anm: Schwurbel-Zäpfchen). Das beruhigt.“
„Er muss sich selbst beruhigen! Das muss er wirklich lernen. Was soll im Leben aus ihm werden?“
Bei diesem Thema kann man es nicht richtig machen. Entweder, man verwöhnt das Kind oder vernachlässigt es. Am besten wissen es die kinderlosen Personen, die augenrollend beim gemeinsamen Spieleabend kommentieren, dass Du zum fünften Mal zum weinenden Brian gehst.
Auch Uromas sind sehr versiert: „Wir haben das Kind damals eingewickelt und sind nur alle vier Stunden zu ihm gegangen. Auch, wenn es geweint hat. Die haben ganz schnell gelernt, dass es sich nicht lohnt.“
Gut, dass diese Zeiten vorbei sind.
6. Leander will den rosafarbenen Becher haben
Das Kind hat hier quasi auf zweierlei Art für Probleme gesorgt.
Erstens möchte das Kind nicht den Becher, den die Eltern ihm auserkoren haben. Und zweitens möchte er lieber den rosafarbenen Becher haben - eine Mädchenfarbe.
Tja, nun. Doof, wenn Kinder einen eigenen Willen haben. Mal wieder.
„Richte Dich ja nicht nach seinen Wünschen. Er lernt nur, dass er alles mit Dir machen kann.“
„Rosa? Er ist doch ein Junge!“
Nun, ich breche mir nicht die Hand, wenn ich Leander einen Becher in seiner Lieblingsfarbe aus dem Schrank hole. Sollte dieser gerade in der Spülmaschine sein, dann muss er auch mal einen anderen nehmen. Auch das kann ein Kind lernen.
Und wenn Leander rosa mag, dann mag er eben rosa. Die Zeiten sind vorbei, in denen Jungs tapfere Indianer und Mädchen zarte Prinzessinnen waren.
Es gibt kein Entkommen
Aus eigener Erfahrung weiß ich, dass es besser wird. Die gut gemeinten Tipps nehmen umgekehrt proportional zum Alter der Kinder ab. Weiß noch jeder etwas zum Thema “Babyschlaf”, “Stillen” oder “Die homöopathische Notapotheke” zu sagen — auch wenn man es alles für Humbug hält, so herrscht plötzlich Schweigen im Walde, wenn Dein Kind mit 4 Jahren schon anfängt zu lesen, Lernschwierigkeiten in der Schule hat oder auf die falschen Freunde trifft. Dann wird lieber hinterrücks geredet.
Wie das dann in der Pubertät wird, kann ich noch nicht beurteilen, aber die Ratschläge werden kommen — ob vornerum oder hintenrum. Dessen bin ich mir sicher. Es gibt kein Entkommen.
(Bild: Geralt, Pixbay)