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Maschine oder Furie?

Ich hasse Arroganz. Andere Menschen von oben herab und respektlos zu behandeln, ist mir zuwider. 

Meine Einstellung ist folgende: jeder Mensch leistet eine Aufgabe im Leben und wir alle bilden zusammen ein Netzwerk, das ohne den anderen nicht funktionieren kann.

 

Das gilt in großem Maße für medizinische Einrichtungen: Ich kann ohne die Pflegefachkraft oder die MFA (medizinische*r Fachangestellte*r) nicht arbeiten. Und diese nicht ohne mich. Ohne Reinigungskräfte würde ein Krankenhaus vor die Hunde gehen. Ohne Köche gäbe es nichts zu essen. Wer in so einer Situation meint, anderen Menschen verstehen geben  zu müssen, dass er oder sie etwas Besseres ist, hat in so einem Netzwerk nichts verloren oder er hat verloren und steht alleine da. Wir sind soziale Wesen und wir können nicht ohne die anderen funktionieren.

 

Doch ein einziges Mal rutschte es mir raus. Ein einziges Mal sagte ich: „Ich mache meine Arbeit und Du Deine.“ Es tut mir im Nachhinein immer noch leid, aber ich war in einer emotional aufgewühlten Situation und hatte mich maßlos geärgert.

 

Gefühl gegen Wahrscheinlichkeit

 

Eine junge Frau war in die Notaufnahme gekommen. Sie hatte stärkste Kopfschmerzen, die sie versuchte, mit Paracetamol und Ibu in den Griff zu kriegen. Doch nichts half. Ihre beste Freundin brachte sie in die Notaufnahme, weil sie sich vor Kopfschmerzen nicht in der Lage fühlte, selbstständig zu erscheinen und einen Rettungsdienst wollte sie nicht bemühen.

Das ist im Übrigen oft der Fall: die Menschen, die wirklich krank sind, schleppen sich irgendwie alleine in die Notaufnahme. Manchmal mehr tot als lebendig.

 

Ich erinnere mich an einen Radfahrer, der nach einem Sturz im Wald mit einem gänzlich verbogenen Rad irgendwie in der Notaufnahme aufschlug. Wie er damit noch fahren konnte, war mir schleierhaft. Und noch schleierhafter war mir, wie er mit einer Rippenserienfraktur, einem gebrochenen Arm und einem leichten Schädel-Hirn-Trauma radfahren konnte. „Ich rufe doch keinen Rettungswagen wegen so einer Kleinigkeit“, erklärte er mir schulterzuckend - so schulterzuckend eben, wie man mit gebrochenem Arm und gebrochenen Rippen zucken kann.

 

Aber zurück zu meiner Patientin mit Kopfschmerzen.

Ich wurde hellhörig, als sie mir sagte, sie habe noch nie im Leben solche Kopfschmerzen erlebt. Dieser klassische Satz wird einem im Studium wirklich eingebläut. „Kopfschmerzen, wie noch nie… Nichts hilft… Wie ein Messer im Kopf… von jetzt auf gleich" von Menschen ausgesprochen und alle Alarmglocken läuten. 

 

Ich hatte kein gutes Gefühl bei der Sache und dachte trotz des jungen Alters an eine Hirnblutung. Eine spezielle Art von Hirnblutungen (Subarachnoidalblutung) tritt auch bei jungen Menschen auf, wenn ein Aneurysma (sackartige Gefäßerweiterung) im Kopf platzt.

 

Ich legte meiner Patientin einen venösen Zugang, gab ihr ein Schmerzmittel, während ich schon mit der Intensivstation telefonierte (für den Fall der Fälle) und ein CT anforderte.

Sie lag währenddessen mit geschlossenen Augen regungslos im Bett, weil ihr jede Bewegung weh tat und erzählte mir von ihrer kleinen Tochter und mir wurde ganz anders. Als Mutter bin ich selbst sehr dünnhäutig, wenn ich von schweren Erkrankungen anderer Eltern erfahre.

 

Wegen des CTs erntete ich genervte Blicke von einem Sanitäter, der in der ZNA arbeitete: „Das ist doch nur Migräne, schick sie heim. Das ist Sache des Hausarztes.“ 

 

Ich höre mir immer die Ratschläge und Meinungen meiner Kollegen an, weil sie mit viel Erfahrung in diesem Beruf stecken. In diesem Fall packte mich jedoch die Wut, weil ich bei meiner Patientin ein ganz schlechtes Gefühl hatte. „Mach es einfach“, sagte ich, er verdrehte die Augen und brachte die Patientin in die Radiologie. (An dieser Stelle sei gesagt, dass ich ihn sehr schätzte und wir sonst immer gut zusammenarbeiteten.)

 

Wenige Minuten später rief mich die Radiologin an und bat mich, rüber zu kommen. So etwas war nur der Fall, wenn etwas Ungewöhnliches gesichtet wurde und daher ging ich sorgenvoll zur Kollegin.

 

Die Radiologin saß vor dem Computer, das Bild in Großaufnahme vor sich auf dem Bildschirm. 

„Das ist nichts Gutes“, sagte sie zu mir und zeigte auf eine undefinierbare, wolkige Struktur, die den gesamten rechten Frontallappen durchzog. Wie ein wüstes Spinnennetz sah es aus und normale Hirnstruktur war an dieser Stelle nicht mehr zu erkennen. 

Mir drehte sich der Magen um. 

 

Mit dem Befund in der Hand ging ich zu dem Mitarbeiter, knallte den Zettel auf den Tisch und fauchte ihn an: “Rede mir nie wieder in meine Arbeit rein…!“, während mir die Tränen in den Augen standen. 

Er schwieg betroffen. Dann stand er auf, ging auf mich zu und nahm mich in den Arm. 

 

Wir sind keine Maschinen

 

Ich verlegte die Patientin mit der schlimmen Nachricht in die nächste Neurochirurgie. Sagte ihr, dass wir noch nicht genau wissen, was es ist, aber dass es ernst sei. Dass es etwas Bösartiges sein könnte und wir ein MRT brauchen. Dass sie jetzt zu den Spezialisten gehen muss.

 

Im Nachhinein habe ich erfahren, dass es zum Glück kein bösartiger Tumor, auch keine Blutung, aber eine andere schwere Erkrankung war, die man aber operativ lindern kann. 

 

Dennoch ist der „Fall“ auch beim Schreiben wieder sehr präsent, denn manche Geschichten gehen Dir nahe. Wir sind alle keine Maschinen.

Aber auch das macht das Zusammenarbeiten in Arztpraxen, Kliniken und Notaufnahmen aus. Manchmal knallt es untereinander. Und dann kommt jemand, und nimmt Dich in den Arm, obwohl er genervt und Du eine Furie warst.

 

 

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Bild: Pixabay, Wolfgang_Vogt

Gender: Wie immer meine ich trotz maskuliner Schreibform immer alle Geschlechter.