Schmerz ist wie ein gemeiner Ohrwurm

Wir alle kennen Schmerzen. Akuten Schmerz. Wir schneiden uns in den Finger, hauen uns den Kopf am Fenster an oder fallen beim Biken vom Rad.

Wir kennen Muskelkater, Gliederschmerzen bei Grippe, Kopfschmerzen bei Stress und Rückenschmerzen von der Gartenarbeit oder vom langen Stehen während der internistischen Visite - Gute Güte, können Internisten lange reden. 

 

Viele Menschen kennen aber auch chronische Schmerzen. Und damit kennen sie kein Leben ohne Schmerzen. Sie sind einfach immer da. Mal stärker, mal schwächer. Nie nicht. 

 

Somatischer und viszeraler, akuter und chronischer Schmerz

 

Ich gehöre glücklicherweise zu den Menschen, die eigentlich nie Schmerzen haben. Es sei denn, ich habe beim Sport mal wieder übertrieben oder mir bei der Gartenarbeit den Rücken „verhoben“. Frau Doktor, mei Rügge. Was von alleine kommt, geht auch von alleine. So sagt der Hesse.

 

Das ist akuter Schmerz. Akuter Schmerz kann somatisch sein, wenn ich einen lokalisierten Schmerzpunkt habe, weil der Hammer auf meinem Daumen dort eben weh tut. Oder er kann viszeral sein, wenn mir die Eingeweide schmerzen, weil mein Wurmfortsatz vom Blinddarm entzündet ist. Diese akuten Schmerzen lassen irgendwann wieder nach. Entweder, weil ich den Hammer vom Daumen nehme oder den Wurmfortsatz entfernen lasse.

 

Schmerzpatienten kennen das nicht, dass Schmerzen wieder nachlassen, denn der Schmerz hat sich sein eigenes Gedächtnis geschaffen und es sich bequem gemacht. Ihn zu beherrschen, erfordert Zeit, Mühe, ein interdisziplinäres Behandlungskonzept und Ärzte, die hinter die Fassade blicken. 

 

Schmerzen haben viele Ursachen 

 

Ich erinnere mich an eine Patientin, die ich in einem fantastischen, interdisziplinären Seminar zum Thema Schmerz kennengelernt habe. Sie litt unter zunehmenden Kopfschmerzattacken, die sie wöchentlich etwa vier bis fünf Tage ans Bett fesselten. Zwar hatte sie schon immer mit Migräne zu kämpfen, aber nicht in dem Ausmaß. Nicht in einem lebensverändernden Ausmaß.

 

Sie saß in unserem Seminar und die Fragen prasselten auf sie ein und ich fragte mich dabei, ob das nicht zuviel für sie sei. Ich hielt meinen Mund und hörte zu.

 

Ja, die Kopfschmerzen seien irgendwie immer da und Nein, Ibu und andere Medikamente helfen eigentlich nicht. Ja, sie nehme sie dennoch ständig ein, weil man müsse ja was tun. 

Die Übelkeit sei das Schlimmste. Und der Nacken. Ganz verspannt sei der. 

 

Ich wurde hellhörig. Nackenverspannungen kennen wir ja alle, sie können wirklich so schmerzen, dass es einem die Tränen in die Augen treibt. Und sie können Kopfschmerzen machen. Und auch eine Migräne kann Nackenverspannungen hervorrufen. 

Die Migräne der Dame erschien mir aber immer untypischer: auf den gesamten Kopf bezogen, nicht pulsierend und dröhnend, sondern einfach konstant schmerzend. Und nichts half. Es wurde alles ausprobiert. Diverse Triptane (ein Migränemedikament, das man zu Beginn des Anfalls einnimmt), Medikamente gegen Übelkeit, viel zu hohe Dosierungen von Ibu und ihr Antidepressivum. 

 

Antidepressivum? Nun hakte ich doch mal vorsichtig nach und erfragte den Grund für die Einnahme. 

 

„Das nehme ich schon lange. Wegen meiner Krebserkrankung hatte ich Depressionen. Die Chemotherapie war echt anstrengend und meine Nieren sind nicht mehr so gut. Kinder kann ich auch nicht kriegen, aber das ist nicht so schlimm, ich will sowieso keine. Und meine Depressionen sind weg.“ Es sprudelte nur so aus ihr heraus. 

 

Nierenprobleme haben und immer schön Ibu reinkippen? Wieso sagte ihr niemand, wie fatal das sein kann? Wieso verschrieb ihr Hausarzt ihr weiterhin Ibu? Zumal es nichts half? Wurden die Antidepressiva in ihrer Indikation, also dem Grund für die Verschreibung, mal überprüft? Wurde der Kopf neurologisch überprüft? Sie hatte immerhin eine Krebserkrankung und es könnte eine Metastasierung stattgefunden haben.

 

„Ich war auch beim Neurologen, das MRT war in Ordnung. Aber gegen die Kopfschmerzen konnte er auch nichts machen.“ Ich war erleichtert.

 

Sie erzählte weiter. Auf der Arbeit seien ja alle total lieb zu ihr und entlasteten sie oder schickten sie nach Hause. Aber der Partner habe kein Verständnis. 

 

Meine innere „Aha“- Liste wuchs und ich schlussfolgerte im Stillen: Das ist keine Migräne. Hier hat die Psyche ihre Finger im Spiel. 

 

Und tatsächlich, irgendwann gestand sie: „Ich habe gar keine Kopfschmerzen mehr. Meine Krankengeschichte ist wahr, aber alt. Es ist ein paar Jahre her, da kam ich nicht mehr aus dem Bett heraus, nichts half mir. Bis eine Ärztin auf der Schmerzstation mal sagte, ich habe ein Burnout.“ Und grauenhafte Spannungskopfschmerzen.

 

Ich war erleichtert, dass mich mein Eindruck und meine Schlussfolgerung nicht getäuscht hatten, denn in der Fallbesprechung vertrat ich vehement die Auffassung, dass ihre Kopfschmerzen sie aus dem Alltag „herausnehmen“ und sie abschottetn. Ihr Kopf hatte ihr gezeigt, dass es so nicht weitergeht. Nachdem sie einiges im Leben geändert hatte - neuer Job, Scheidung - waren die Kopfschmerzen verschwunden. 

 

Chronische Schmerzen sind ein Miststück

 

Schmerzen sind ein Miststück. Ich hatte schon ganz junge Patienten, die hohe Dosen an Schmerzmitteln einnehmen, damit sie überhaupt „funktionieren“ können. Und denen ich auch nicht helfen konnte, was mir immer sehr nahe geht, weil ich ja helfen will. 

 

Schmerzen können sich aber so verselbständigen, dass sie ein Schmerzgedächtnis ausbilden. Der Mechanismus ist folgender: 

 

Ein akuter Schmerzreiz, der eine Alarmfunktion im Körper hat, wirkt auf die Schmerzrezeptoren, die sogenannten Nozizeptoren. Sie enden mit ihren Fasern im Rückenmark, wo Glutamat ausgeschüttet wird und dort Hinterhornneurone aktiviert. Diese wiederum leitet das Signal weiter an das Gehirn, welches den Schmerzeindruck generiert. Schmerzen entstehen also im Gehirn.

 

Akute Schmerzen haben also eine wichtige Funktion: sich mit dem Hammer auf den Daumen zu hauen, ist eine doofe Idee. Pass demnächst gefälligst besser auf!

 

Manchmal sind die Schmerzreize so groß, dass die freigesetzte Menge an Glutamat und anderen Signalstoffen im Rückenmark so groß ist, dass eine dauerhafte Veränderung auf Zellebene einsetzt.

 

Diesen Prozess nennt man LTP - Langzeitpotenzierung. Und LTP sorgt dafür, dass selbst geringe Schmerzreize eine starke Erregung der Nervenzellen auslöst und als starke Schmerzen wahrgenommen werden.

Der Schmerz hat also seine Alarmfunktion verloren. Um es einfach auszudrücken: Das Gehirn wird immer empfindlicher. Zu empfindlich.

 

Und die Schmerzen können sich ausbreiten. Weil die veränderten Nervenzellen einerseits Nachbarsturkturen beeinflussen, andererseits weil man eine Schonhaltung einnimmt, die wiederum zu Fehlhaltungen und Verspannungen führt. 

 

Folge: Vielen Schmerzpatienten tut irgendwann der ganze Körper weh. Das ist keine Einbildung, das hat ihr Gehirn so gelernt. Wie ein furchtbarer Ohrwurm, der sich einfach nicht mehr löschen lässt.

 

Bei wiederholten oder andauernden Schmerzreizen können die Veränderungen bis an das Lebensende bestehen bleiben. 

 

Deswegen ist es wichtig, große Schmerzreize am besten gar nicht erst entstehen zu lassen. Blöderweise kommen die meisten Schmerzreize ungeplant: Verletzung oder eine Krankheit lassen sich nicht vorhersehen. Niemand plant, nun einen Bandscheibenvorfall oder einen Unfall zu haben oder eine schwere Krankheit zu entwickeln. 

 

Wenn diese Ereignisse auftreten, ist eine vernünftige und zielgerichtete Analgesie (Schmerzstillung) wichtig. Eine Narkose verhindert im Übrigen nicht die Entstehung eines Schmerzgedächtnisses, weil die Wirkung der Medikamente am Rückenmark zu gering ist. 

 

Und weil eine pharmakologische Löschung des Schmerzgedächtnisses leider auch nicht funktioniert, ist die Prämisse „viel hilft viel“ wie so oft in der Medizin nicht wirksam. 

 

Im Gegenteil: Ein Zuviel an Medikamenten bei chronischen Schmerzen erhöht die Schäden durch Nebenwirkungen. 

Im Falle der Kopfschmerzpatientin aus dem Fallbeispiel muss man an Nierenschäden durch Ibuprofen, Kopfschmerzen durch Kopfschmerztabletten per se (mehr bei Indomethacin und Paracetamol als bei Ibuprofen) und Leberschäden durch z.B. Paracetamol denken.

 

Schmerztherapie und andere Maßnahmen 

 

Daher empfiehlt die WHO bei chronischen Schmerzen den Einsatz von sogenannten Opioiden, das sind Abkömmlinge vom Morphin und entweder stärker oder schwächer als Morphin, je nach eingesetzter Substanz. Denn Opioide schädigen weder Leber noch Nieren und die Angst vor der Sucht ist auch unbegründet.

Ja, man entwickelt eine körperliche Abhängigkeit, das ist nun mal Teil des Prozesses. Aber man entwickelt keine Sucht, denn Sucht würde ein Verlangen nach „mehr“, ein „Craving“ voraussetzen.

Was passieren kann, ist, dass man mehr an Opioiden benötigt, aber ohne eine Sucht.

Manchmal verordnen Ärzte auch Antidepressiva. Aber nicht, weil sie eine Depression vermuten, sondern um die Schmerzwahrnehmung zu verringern. 

 

Leider kann kein Medikament das Schmerzgedächtnis löschen. Pharmakologisch ist das nicht möglich. Man kann einem Schmerzpatienten aber auch nicht einfach seine Medikamente wegnehmen und nichts machen.

 

Andere Maßnahmen müssen also her, und die fordern Eigeninitiative vom Patienten. Es funktioniert nicht mit „nur Tabletten“.

 

Wichtig ist für Patienten, sich seiner Stressreize bewusst zu werden. Nicht, weil jeder Schmerz durch Stress ausgelöst wird, sondern weil Stress Schmerz verstärken kann. Dafür benötigt es manchmal Hilfe von außen in Form von Freunden, Familie, Psychologen oder auch mal eine Telefonseelsorge, wenn es Themen im Leben gibt, die man alleine nicht bewältigen kann. 

 

Darüberhinaus kann das Gehirn Schmerzen auch wieder verlernen. Etwas, das man lernen kann, kann man auch verlernen. So, wie ich meinen Examensstoff von vor zehn Jahren nicht mehr umfassend im Kopf habe. Das impliziert aber auch, dass es dauert. Es geht nicht von heute auf morgen.

 

Das Verlernen von Schmerz geschieht zum Beispiel durch Ablenkung. Ein nettes Beispiel ist das Ablenkungs-ABC, bei dem man sich zu jedem Buchstaben im Alphabet einen Gegenstand, eine Musikband, ein Lebensmittel, ein Land usw. einfallen lässt. Indische Fakire verwenden diese Technik angeblich, wenn sie auf Nagelbrettern sitzen. Sich auf Nagelbretter zu setzen, empfehle ich jetzt nicht, aber diese Techniken am besten mithilfe eines Schmerztherapeuten zu erlernen, das empfehle ich schon. 

 

Außerdem ist Aktivität ganz wichtig. Während man sich bei akuten Schmerzen manchmal schonen muss, ist sie bei chronischem Schmerz vollkommen fehl am Platz. Warum? Weil dauernde Inaktivität eine Schonhaltung verursacht, die schmerzverstärkend wirken. Weil Aktivität Endorphine ausschüttet. Weil Bewegungsmangel Übergewicht und „Verschleiß“ verursacht, die wieder neue Probleme verursachen.

 

Zusammenfassung

 

Kurz gesagt: Akuter Schmerz ist sinnvoll und hat eine Alarmfunktion. Chronischer Schmerz hat diese Funktion verloren und feuert einfach wild drauf los, ohne Sinn und Verstand. Miststückartig. Ohrwurmig.

 

Daher muss man bei einem akuten, starken Schmerzereignis eine suffiziente, zielgerichtete Therapie durchführen, zum Beispiel auch bei einer Gürtelrose, die in der Hausarztpraxis häufig vorkommt und leider oft zu einer Postzosterneuralgie führt. 

 

Chronische Schmerzen bilden sich Menschen nicht ein. Ihnen zu sagen, dass sie sich nicht so anstellen sollen, ist mehr als falsch.

 

Denn auch an einen Ohrwurm kann man nicht einfach nicht denken. Je mehr man an ihn denkt, umso schlimmer ist es. "Hör auf, an das schreckliche Lied zu denken!" "Mentos Freshness, fresh goes better...!" Bitteschön.

 

So ist es mit dem Schmerz. Daher gilt: Ablenken, soziale Kontakte pflegen, Stress reduzieren, Bewegen und Hilfe durch Schmerztherapeuten suchen, die eine passende medikamentöse Therapie einstellen.

 

Damit es dem Ohrwurm an den Kragen geht. 

 

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Gender: Auch, wenn ich zugunsten des Leseflusses in der maskulinen Form schreibe, meine ich immer alle Geschlechter.

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