"Das Kind hat Essigessenz getrunken"

Triggerwarnung: Es geht um Kindesmisshandlung. Das Lesen des Textes kann Flashbacks hervorrufen. 

Sollten Sie damit konfrontiert worden sein, bedenken Sie bitte, ob Sie den Text lesen möchten.

Anlaufstellen finden Sie hier: 

0800 19 210 00 Kinderschutzhotline

0800 111 03 33 Anonymer Kinderschutzbund 

www.wildwasser.de

www.dgfpi.de 

 

Das Kind hat Essigessenz getrunken

 

„Kann uns jetzt endlich mal jemand helfen?!“ Der junge, hochgewachsene und kräftig aussehende Mann mit den blonden Haaren und der etwas zerschlissenen Kleidung blafft mich unvermittelt an, als er mein Sprechzimmer betritt, dabei wurde er an der Anmeldung ohne Wartezeit durchgewinkt und ich weiß noch nicht mal, worum es geht. Ich kenne die Familie bisher nicht.

 

Ich biete ihm mit einer Geste einen Platz an, seine Frau schleicht hinter ihm her, den Kopf geneigt, auf dem Arm ein schlafendes Kind von etwa 1,5 Jahren. Sie setzen sich. Und er blafft weiter.

 

„Es hilft einem ja nie jemand! Seit Stunden simma mit dem Kind unterwegs und keiner macht was!!“

Die Frau schweigt und schaut zu Boden.

„Sie sind ja jetzt hier und ich gebe mein Bestes, Ihnen zu helfen. Aber dafür muss  ich erstmal wissen, worum es geht.“

Ich gebe zu, es fällt mir etwas schwer, freundlich zu bleiben, aber die beiden scheinen sehr zerrüttet und meinen es bestimmt nicht böse. Sie schweigt weiter. 

 

„Unser Sohn hat Essigessenz getrunken. Und dann gekotzt. KEINER HILFT UNS! Zu unserem Hausarzt wollen wir nicht, der macht ja nie was. Beim Bereitschaftsdienst ist keiner da und die Apotheke da vorne sagt, dass wir zum Arzt müssen. Dann haben wir beim Krankenhaus angerufen und die sagen, dass sie keine Kinder behandeln.“

 

Okay. Puh. In meinem Kopf rattert es. Ich gebe zu, ich habe keine Ahnung, ob Essigsessenz bei Kindern schwere Verätzungen verursachen kann. In meinem Kopf google ich bereits die Nummer der Giftnotrufzentrale. 

 

Eine schwierige Anamnese... 

 

„Wann hat ihr Sohn denn die Essigessenz getrunken?“, frage ich nun, an die Frau gewandt. Mit brüchiger Stimme schaut sie ängstlich zu ihrem Mann und antwortet: „Vor drei Stunden etwa. Ich habe es nicht mitbekommen.“

„Wie ist es denn passiert?“ Ich bin etwas stutzig, dass das Kind offenbar länger alleine war.

„Wir waren im Wohnzimmer. Als wir nach dem Kleinen gesehen haben, saß er in der Küche und trank aus der Essigflasche.“

 

Wer die Essigessenz zu Hause hat, der weiß, wie ekelhaft das Zeug riecht. Es beißt schon beim Schnüffeln in der Nase. Und das soll das Kind getrunken haben? Freiwillig? 

Ich hake nach. 

„Wo stand der Essig denn?“

„Unter der Spüle bei den Putzmitteln.“

 

Gedanklich gehe ich zurück zu den Zeiten, als meine Kinder klein waren. Kaum im Krabbelalter angekommen, machten sie die Wohnung unsicher, das ist normal. Auch dass Kleinkinder alles in den Mund nehmen, von diversen Flaschen, Krümeln, über Blumenerde bis hin zu allerlei Gedöns. Aber Putzmittel sollte, sobald man Kinder hat, in hohen Schränken und/oder abschließbar verstaut werden. 

 

„Wie lange war Ihr Sohn denn alleine?“

„Höchstens 20 Minuten!“ Ihre Stimme zittert, er stiert mich hypnotisch an. 

Ich versuche meine Eindrücke zu ordnen: Das Kind ist sehr klein, war alleine in der Küche und die Eltern bekommen nicht mit, dass es Essigessenz trank. Der Sohn ist noch nicht in dem Alter, in dem man ihn unbeaufsichtigt in der Küche lassen kann. Oder hat er es nicht freiwillig getrunken? Mein Kopf rast. 

 

„Er hat dann gebrochen“, erklärt sie weiter mit brüchiger Stimme. „Und seitdem schläft er.“  

Ich rolle mit dem Stuhl an die Mutter heran und fühle den Puls des Jungen. Regelmäßig, normal schnell. Er atmet ruhig. Vorsichtig höre ich ihn ab. Keine Rasselgeräusche. Es hätte ja sein können, dass er Essig oder Erbrochenes aspiriert (eingeatmet) hat, aber bisher hört sich seine Lunge normal an.

 

„Wieviel hat er denn getrunken?"

"So eine viertel Flasche." Mich schüttelt es bei der Vorstellung.

"Hat er Blut gebrochen?“  Sie schüttelt den Kopf.

„Können Sie jetzt endlich was machen?!“ Er motzt wieder. 

 

Ich bitte nun also das Paar, kurz draußen Platz zu nehmen, damit ich telefonieren kann, und atme tief durch. Ein liebreizender Zeitgenosse. Seine Frau scheint sehr ängstlich zu sein und mir kommt die ganze Sache komisch vor. 

 

Zum Glück gibt es die Giftnotrufzentralen... 

 

Während meiner Notaufnahmenzeit hatte ich die Nummer der Giftnotrufzentrale direkt an meinem Computer und sie hat mir schon so einige Male geholfen. Zum Beispiel, als die junge Frau in halbsuizidaler Absicht eine ganze Menge verschiedener Tabletten nahm. Oder bei dem Mann, der irgendeine Art selbstgebrauten Fusel trank, der eher als Putzmittel hätte herhalten können. Man denkt ja immer, diese Badewannenreiniger-Geschichte sei eine „urban legend“, aber Menschen trinken die dollsten Sachen, um sich zu berauschen. 

 

Die Giftnotrufzentrale erklärt mir nun, dass Essigessenz normalerweise keine bleibenden Schäden verursacht und auch keine Verätzungen. Das Kind könne Magenschmerzen und Durchfall bekommen, solle aber lieber zur Beobachtung in eine Kinderklinik. 

Das erscheint mir auch angesichts meines seltsamen Gefühls sinnvoll und ich rufe die nächste Kinderklinik an.

 

... und aufmerksame Kinderärzte

 

Eigentlich ist ja nichts Schlimmes passiert. Noch mal gut gegangen. Mit einem blauen Auge davon gekommen. Um mal ein paar Phrasen zu dreschen. Dennoch finde ich es seltsam. Zum einen, dass der kleine Junge unbeaufsichtigt war. Zum anderen, dass er eine viertel Flasche von dem beißend stinkenden Zeug getrunken haben soll. Hatte er Hunger, Durst? So massiv, dass er sogar Essig trank? Oder war es einfach Pech? Neugier?

 

Und was noch hinzu kommt: Die Familie fuhr etwa 80 Kilometer zu uns, weil sie nicht zu ihrem Hausarzt gehen wollten. In ihrer Gegend gibt es eine größere Anzahl an Kliniken, auch eine Kinderklinik. Warum also der weite Weg zu uns aufs Land? Seine Region als Anlaufstelle zu meiden kann ein Hinweis darauf sein, dass die Familie dort eventuell schon mit mehreren „Unfällen“ des Kindes bekannt sind. 

 

Der Kinderarzt der Klinik am Telefon stutzt bei meinem Schilderungen ebenfalls und ich erwähne auch, dass ich mich vielleicht täusche. Aber bitte ihn, mal etwas genauer hinzusehen und er bestätigt es. 

 

Dann hole ich die Familie wieder zu mir und erkläre ihnen den weiteren Ablauf und sie verlassen das Zimmer ohne Worte.

Leider weiß ich bis heute nicht, was aus der Sache wurde, da ich ja nur als Vertretung agierte. 

 

Aber manchmal sind Fälle von Kindesmisshandlung so gut versteckt, dass man es kaum bemerkt. Blaue Flecken werden als Hämatome vom Toben deklariert oder das Baby fiel vom Sofa. Dabei ist Vorsicht geboten, denn die Hämatome bei Gewalt sind meist an anderen Körperstellen und ein Schütteltrauma beim Baby hat ebenfalls spezifische Merkmale.

 

Ich erinnere mich an einen „Fall“ aus meinem Praktischen Jahr, dem letzten Jahr vom Studium, das man in der Klinik verbringt. In die Unfallchirurgie wurde ein Baby gebracht, das angeblich vom Wickeltisch fiel. Auch wenn wir keine angeschlossene Kinderklinik hatten, wurde unmittelbar ein CT des leblosen Kindes gemacht und die nahe gelegene Kinderklinik schickte ein Baby-NEF (Notarzteinsatzfahrzeug) und übernahm die Versorgung. Der Schädel war gebrochen. Das Kind hatte Hirnblutungen.

Am nächsten Tag erklärte der Chefarzt, dass die Kinderklinik Rückmeldung gab. Das Kind hatte es nicht geschafft. Es war mit einem Telefon auf den Kopf geschlagen worden, weil es zu viel schrie, und starb letztlich an den schweren Verletzungen. 

 

Man wird im Laufe seiner Medizinerlaufbahn immer wieder damit konfrontiert und ich hoffe, dass ich den Eltern des Jungen, der Essigessenz trank, kein Unrecht getan habe. 

 

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Bild: Pixabay, Clker-Free-Vector-Images