Vorab: Die Namen und Daten des Patienten sind natürlich geändert.
„Herr Schiller bitte!“
Keine Reaktion.
„Du musst lauter rufen, er hört dich nicht“, raunt mir meine liebe Kollegin zu. „Er ist ein bisschen schwerhörig.“
„HERR SCHILLER BITTE!“
Ich rufe laut und alle Herr Schillers im Umkreis von einem Kilometer machen sich nun wahrscheinlich auf den Weg.
Aus dem Wartezimmer kommt ein kleiner, zierlicher Mann langsam um die Ecke gelaufen. Er ist alt. So etwa 90 Jahre.
Nach vorne gebeugt läuft er, der Kopf ist nur noch spärlich von Haaren bedeckt und das Gesicht zeigt tiefe Falten, die ihm das Leben beigebracht hat. Es sind Lachfalten.
Strahlende, blitzende Augen schauen mich an, als er auf mich zugelaufen kommt.
Mit einer Geste bitte ich ihn, mir zu folgen und er schlurft in kleinen Schritten hinter mir ins Sprechzimmer und nickt dabei allen Kolleginnen freundlich zu.
Ich schließe die Tür hinter ihm.
„Guten Morgen“, sage ich und stelle mich mit meinem Namen vor. Laut, denn inzwischen weiß ich ja, dass er nicht gut hören kann.
„Sind Sie die Frau Doktor?“, fragt er und strahlt mich dabei an.
„Jawohl!“, antworte ich und strahle reflexartig zurück.
„Prima!“, sagt er. “Ich bin der Ludwig!“
Bei soviel Lebensfreude, die sein Gesicht in sich birgt, geht mir das Herz auf.
„Was kann ich für Sie tun?“, frage ich, nachdem wir uns gesetzt haben, und er beginnt, mir sein Problem zu schildern.
Wortgewandt, klar im Kopf und kein bisschen alt wirkt Herr Schiller, und seine wachen Augen taxieren mich genau. Keine Spur von Alter versteckt sich in diesem 90jährigen Mann, wenn man von den Äußerlichkeiten einmal absieht.
Er hat ein paar nicht ganz so banale Sorgen, einige Vorerkrankungen und viele Medikamente.
Nachdem wir gesprochen haben, muss ich ihn untersuchen, und zum Schluss der Prozedur noch in den Rachen schauen.
"Ich würde Ihnen gerne einmal in den Mund sehen." Er stutzt. „Aber dann muss ich ja die Maske abnehmen. Darf ich?“, fragt er.
„Ausnahmsweise“, antworte ich. „Sonst sehe ich nicht viel.“
Ich grinse. Er grinst zurück und nimmt die Maske ab.
„Strecken Sie mir mal bitte die Zunge raus?“, bitte ich ihn, damit der Rachenraum besser einsehbar ist.
„Aber sowas mache ich doch sonst nie, die Zunge rausstrecken! Das gehört sich nicht!“
Er ist gespielt empört und seine Augen blitzen belustigt. Er macht sich hier ein Spaß mit mir, und ich freue mich wie Bolle über ihn.
Als er das Sprechzimmer wieder verlässt, überlegt er: „Die Hand geben dürfen wir uns ja nicht, aber vielleicht können wir ja so machen...“, und hält mir elegant seinen linken Ellenbogen entgegen. Mit einem innigen Ellenbogencheck verabschieden wir uns.
„Ja also, ich geh dann mal!“, sagt Ludwig und verlässt in kleinen, leisen Schritten die Praxis.
Ich liebe meinen Job.
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Bild: FuSuSu,Pixabay