Eigentlich wollte ich mich zu dem aktuellen Covid-Impfdesaster, das in Deutschland stattfindet, nicht äußern. Weil ich der Meinung war, dass es sich schon zum
Guten wenden wird. Weil ich den guten Glauben hatte, dass es erst einmal alles anlaufen muss, aber dann wie behauptet mehrere hunderttausend Menschen pro Woche durchgeimpft werden können. Pro
Tag! Pro Stunde! Ach, was rede ich, pro Minute! Wenn wir erst einmal genügend Impfstoff haben.
Und nun, man stelle es sich vor, haben wir ausreichend Impfstoff. Aber er wird nicht verabreicht und fristet jetzt sein unterkühltes Dasein in einsamen Lagerhallen. Es ist traurig.
Ich kann verstehen, dass das Projekt Zeit brauchte, um anzulaufen. Dass es Lieferschwierigkeiten mit der mRNA-Vakzine gab, weil sie extrem tiefgekühlt gelagert werden muss. Dass man die Reihenfolge nicht in einem großen Chaos enden lassen und aus Fairness die vulnerablen Gruppen zuerst schützen wollte.
Morbus bürokrateus
Aber gut gemeint, ist nicht immer gut gemacht. Wir als Nation bürokratisieren uns zu Tode - im traurigen wahrsten Sinne des Wortes. Denn jede Impfung, die verzögert wird, kostet Menschenleben. Aktuell laufen wir sehenden Auges in die dritte Welle hinein, dabei haben wir genau diesen Fehler schon einmal begangen und niemand wollte auf Drosten und Lauterbach hören.
Und nun… Once again. Wir lockern nach und nach die Kontaktbeschränkungen, aber lockern nicht unseren Bürokratiewahn. Die Pandemie beherrscht uns seit einem Jahr, aber es müssen erst Arbeitskreise, eine Taskforce und offizielle Änderungen der Impfstoffverordnung durch eure Magnifizenz Herrn Spahn passieren, damit es Schnelltests (oder auch nicht), Impfungen (oder auch nicht) und weitere Arbeitskreise gibt. Denn: Wenn Du mal nicht weiter weißt, bilde einen Arbeitskreis.
Die Politik gibt sich völlig unbeteiligt an dem Desaster. Die Länderchefs sind schuld. Die Lieferanten. Die Medien. Vielleicht auch die Gesellschaft im Allgemeinen und im Speziellen, und wenn man keinen Schuldigen findet, dann ist Corona einfach schuld. Dass andere Länder vormachen, wie es gehen könnte, wird ignoriert oder in weiteren Arbeitskreisen diskutiert.
Gut, im letzten Jahr, als es um die Bestellung der Impfstoffe ging, konnte man tatsächlich noch nicht genau wissen, welche Impfstoffe das Rennen machen würden. Zu dieser Aussage stehe ich, denn in klinischen Versuchen können einfach auch mal Probleme auftreten, so dass die Studien abgebrochen werden müssen. Andere Länder haben sich ausreichend Impfstoff gesichert, aber wir waren eben vorsichtig. Zu vorsichtig, retrospektiv gesagt. Aber das ist ja jetzt gar nicht mehr das Problem. Inzwischen werden die Impfungen einfach zu Tode reguliert.
Endlich dürfen wir Hausärzte! Aber können wir das denn überhaupt?
Nun kommt endlich Bewegung in die träge Suppe: wir Hausärzte sollen/dürfen endlich mitimpfen.
Aber halt, nein. Nicht so voreilig! Eigentlich erst ab Ende März. Oder lieber im April. Jetzt muss man erst einmal diskutieren, ob wir das überhaupt können.
Hausärzte könnten nicht gut strukturieren, lese ich da. Sagt der Chef der Allgemeinmedizin der Uni Erlangen: "Dem steht allerdings eines im Weg: In ihrer bisherigen ,Der-Nächste-bitte-Mentalität' haben Hausärzte selten Übung mit strukturierten Herangehensweisen.“ (Zitat SZ).
Ich bin ehrlich entrüstet. Hausarztpraxen fangen täglich die großen Patientenmassen ab, müssen Gespräche, Untersuchungen, Labortermine, Notfälle und Therapien im Tagesablauf unterbringen. Das geht nur mit Struktur. Wie kommt man auf die Idee, wir hätten diese nicht?
Man müsse priorisieren, eine Patientenliste anlegen und die Patienten dann gegebenfalls mit einem Telefonanruf einbestellen, heißt es weiter.
Au Backe. Das klingt in der Tat hochkompliziert und ist nicht vergleichbar mit den Warteliste, die wir für die Pneumokokken- und die Gürtelrose-Impfung führen. Kein bisschen vergleichbar. Nö.
Des Weiteren besteht die Sorge, wir würden vielleicht öfter mal ein Auge zudrücken. Aus Gründen der Nächstenliebe oder so, vermute ich, und dann käme einfach jemand an die Impfung, der noch nicht dran wäre. Eventuell würde dadurch die Priorisierung der Ständigen Impfkommission ausgehebelt und wild durcheinander geimpft werden.
Ich muss mich mal räuspern.
Seit Äonen (Ä-O-NEN) impfen Niedergelassene was das Zeug hält. Influenza, Tetanus, Gürtelrose, Masern, Hepatitis u.v.m. Wir machen das quasi nebenbei, neben dem normalen (strukturierten) Praxisbetrieb.
Ja, wir kennen unsere Patienten und wissen, wer welche Gebrechen hat und wer von der schnellen Impfung profitieren würde. Täglich schreiben wir Atteste, aus denen hervorgeht, welche Patienten dringlich eine solche benötigen. In der Zeit, in der wir das Attest geschrieben haben, wäre dieser Mensch längst geimpft.
Jeden Tag erkläre ich vormittags drei- bis fünfmal über die verschiedenen Impfstoffe auf. Währenddessen hätten die Patienten schon längst die #ÄrmelHoch gekrempelt und die Impfung wäre am Ort ihrer Bestimmung angelangt.
Und ja, wir können auch Nein sagen. Das mussten wir im letzten Jahr bei dem oft mangelhaft vorhandenen Grippeimpfstoff auch tun: „Tut mir leid, sie sind zu jung. Erst ab 60 Jahren dürfen wir Sie impfen."
Wieso sollten wir das nicht können? Wir sind doch keine Marktschreier, verkaufen meistbietend und werden reich davon. Wir machen Medizin zum Wohle unserer Patienten und lassen der 90-jährigen Frau den Vortritt gegenüber dem jungen Mann, der keine Vorerkrankungen hat.
So viele hochbetagte Patienten würden es in ihre Hausarztpraxis schaffen, aber nicht in das viele Kilometer entfernte Impfzentrum. Selbst den mRNA-Impfstoff könnte man montags auftauen und bis zum Ende der Woche verteilen. Und sollte jemand nicht zu seinem Termin erscheinen, könnte man einfach die nächsten Patienten kontaktieren. Die nämlich um die Ecke wohnen und vorbeikommen können. Letztlich ist das Ziel nämlich, so viele Menschen wie möglich gegen Covid-19 zu impfen.
Zeitnah. Und nicht erst in Äonen.
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Bild: Victoria_Borodinova, Pixabay