Gestern setzte ich einen kurzen Tweet bei Twitter ab, in dem ich kurz einige Symptome und Erkrankungen von anonymisierten Patient:innen nach einer COVID-Erkrankung schilderte: Lungenembolie, dauerhafte Müdigkeit, Blutdruckschwankungen, Konzentrationsstörungen.
Die Antworten auf den Tweet kamen prompt und es hat mich doch erschüttert, wie viele Menschen offenbar nach einer Erkrankung mit SARS-CoV2 auch noch nach Monaten unter Beschwerden leiden.
Daher habe ich mich noch einmal intensiv belesen und möchte Euch meine Beobachtungen und Eindrücke aus der Hausarztpraxis schildern.
Vorweg sei genommen, dass es sich hierbei um meine Eindrücke handelt und meine Wahrnehmung eventuell auch durch die Suche im Netz und das Lesen der Schilderungen bei Twitter in eine Richtung verzerrt sein könnte, dass ich Long COVID als ernsteres Probleme betrachte, als andere, die mit der Materie nichts zu tun haben. Insbesondere in den sozialen Medien beschreiben Menschen ihre Symptome und Beschwerden. Und wer keine hat, schreibt nichts. Wir sehen im Netz also nur das Schlechte, denn das Gute muss nicht diskutiert werden.
Nichtsdestotrotz denken sich die Betroffenen die Beschwerden nicht aus und nichtsdestotrotz kommen Patienten zu mir in die Praxis und berichten, was ihnen mit und nach „Corona“ widerfuhr, und das möchte ich hier wiedergeben.
Von Lungenembolie bis Haarausfall
So variabel die Erscheinungsformen einer Infektion mit SARS-CoV2 sind - von „nichts“ bis „Tod“ - so variabel sind auch die Beschwerden, die sich im Anschluss an die Erkrankung finden.
Bleiben wir erst einmal beim Guten: Gerade dreifach gegen Corona geimpfte Menschen erleben die Infektion mit dem aktuellen Erreger Omikron meist als „Erkältung“ mit Halsschmerzen, Schnupfen, Husten, Nachtschweiß und Kopf- und Gliederschmerzen in unterschiedlichem Ausmaß. Oft nicht schön, aber auszuhalten, ein sogenannter „milder Verlauf“, auch wenn es die Menschen gelegentlich einige Tage ans Bett fesselt.
Über den Verlauf bei ungeimpften Patient:innen kann ich weniger berichten, da ein Großteil der Menschen eben den Schutz durch den Pieks bereits erhalten hat. Und bevor es jetzt wieder zu Scheinargumenten kommt, welche die Wirksamkeit der Impfung in Frage stellen („Wieso werden die denn alle krank trotz Impfung und vielleicht werden die Ungeimpften einfach nicht krank, hm? Man wird ja wohl mal fragen dürfen!“), möchte ich anmerken, dass die Impfung ursprünglich gegen den Wildtyp des Virus gerichtet war und TROTZ mehrfacher Mutation des Virus in Alpha, Delta und Omikron noch vor schwerem Verlauf und Tod schützt.
Das Gute ist also, dass die Infektion in vielen Fällen heil überstanden wird.
Kommen wir nun zum Schlechten: Es sterben immer noch 300-500 Menschen pro Tag an dem Virus, und wer es übersteht, ist nicht gleich gesund. „Genesen“ heißt nicht, dass danach alles in Butter ist und die Patient:innen wieder wie junge Eichhörnchen durch den Wald hopsen.
Oft ist es mit dem Hopsen erstmal vorbei und bleibende Atemnot, schlechte Belastbarkeit, Störungen des Geschmacks- und Geruchssinns und kognitive Störungen (also Störungen der Denk- und Konzentrationsfähigkeit) bleiben bestehen.
Auch nach mildem und sogar wenig symptomatischem Verlauf berichten etwa 10% der Patient:innen von Beschwerden, die nach Monaten noch auftreten.
Hingegen lassen sich bei 76% der Menschen, die im Krankenhaus behandelt werden mussten, persistierenden Probleme feststellen.
Es lassen sich drei Phasen einer COVID-Erkrankung unterscheiden:
- Die akute COVID-Erkrankung kann bis zu vier Wochen nach Beginn der Symptome anhalten.
- Die subakute Krankheitsphase bezeichnet den Zeitraum von 4 bis 12 Wochen nach Beginn der Symptome.
- Post COVID: Variable Symptome, die ab 12 Wochen nach Beginn der Erkrankung auftreten, mindestens zwei Monate anhalten und nicht anderweitig erklärt werden können. Die Symptome können in der Intensität variieren und zeitweise verschwinden, um dann wieder aufzutreten.
Die letzten beiden Phasen werden auch als Long COVID bezeichnet. Die WHO benutzt den Begriff Long COVID nicht, sondern spricht von Post COVID.
Folgen von COVID: akut, zufällig parallel und long
Fallbeispiel 1:
„Vor 10 Tagen hatte ich einen positiven Schnelltest und dann war auch die PCR positiv“, berichtet die Patientin. Sie ist jung, in den Zwanzigern. „Heute morgen habe ich mich mit Schnelltest freigetestet, aber habe immer noch so Schmerzen auf der Brust.“
Wenn Patient:innen frisch nach zehn Tagen Isolation „freigetestet“ in mein Zimmer kommen, öffne ich erstmal das Fenster und schicke Stoßgebete zu WemAuchImmer (Naturgeister, Gott, Spaghettimonster, mein Immunsystem), dass der Mensch vor mir nicht doch noch infektiös ist.
„Haben Sie Schwierigkeiten mit der Luft?“, frage ich sie und zücke mein aktuelles Lieblings-Utensil, das Pulsoxymeter.
„Ich bin nicht belastbar“, antwortet sie. „Kaum eine Etage kann ich hochlaufen, dann muss ich mich setzen. Mein Brustkorb brennt und mein Herz rast dann.“
Das Pulsoxy, also ein Fingerclip-Gerät, mit dem ich die Sauerstoffsättigung und die Pulsfrequenz messen kann, zeigt mir eine zu niedrige Sättigung: 94%.
„Wir nehmen mal Blut ab und machen ein EKG“, erkläre ich ihr, nachdem ich sie abgehört habe, und frage sie noch, ob sie denn geimpft ist. Für den Fall, dass ich sie ins Krankenhaus einweisen muss.
Sie schüttelt den Kopf. „Nein, ich bin ja jung und auch wenn es mir jetzt schlecht geht, würde ich mich nie impfen lassen.“
Ich nehme es hin und diskutiere das nicht aus, schließlich sind die Informationen über die Impfung inzwischen hinlänglich bekannt. Außerdem bringt uns eine Diskussion jetzt nicht weiter und es geht ihr ja nicht gut.
Als sie nach dem EKG wieder bei mir im Sprechzimmer sitzt, bekomme ich aus dem Labor die Nachricht, dass ihr sogenannter „D-Dimer“ - ein Wert, der uns etwas über die Gerinnungsaktivität und mögliche Thrombosen/Embolien aussagt - positiv ist. Der Wert ist immer mit Vorsicht zu betrachten, weil er beispielsweise bei akuten Infektionen, Nierenschwäche oder nach Operationen ebenfalls erhöht sein kann und dann keine Aussage darüber zulässt, ob eventuell ein embolisches Geschehen vorliegt. Ferner sind bei vielen COVID-Patienten auch nach Wochen noch diskret erhöhte D-Dimere feststellbar.
In Zusammenschau mit ihren Beschwerden und der schlechten Sättigung weise ich sie ins Krankenhaus ein. Wochen später erfahre ich, dass sie glücklicherweise keine Lungenembolie hatte. Die schlechte Sättigung war einer Pneumonie im Rahmen der akuten Infektion geschuldet.
Fallbeispiel 2:
Eine hochbetagte, rüstige Dame sitzt vor mir und berichtet mir so nebenbei: „Ich hatte ja Corona und danach eine Lungenembolie.“
Sie ist eigentlich wegen eines anderen Problems bei mir, aber ich möchte wissen, was da los war und lese den Arztbrief aus dem Krankenhaus durch.
Sie ist geimpft und geboostert, aber eben nicht mehr die Jüngste und hat einige Vorerkrankungen. Die Lungenembolie trat vier Wochen nach der Infektion auf, die sie eigentlich ganz gut weggesteckt hat.
„Vielleicht hätte ich die Lungenembolie auch ohne Corona bekommen“, sagt sie schulterzuckend. „Bin ja nicht mehr die Jüngste!“
Ja, vielleicht. Sie hat jetzt noch einige Facharzttermine vor sich, um andere Ursachen für die Embolie auszuschließen. Wir gehen dem nach.
Fallbeispiel 3:
Die Dame ist mittleren Alters und hatte eine Infektion mit SARS-CoV2, bevor die Impfungen verfügbar waren. Die Infektion an sich verlief mild: Fieber, Husten, Gliederschmerzen, Kopfschmerzen.
„Seitdem ich krank war, komme ich nicht mehr auf die Beine“, berichtet sie. „Ich bin dauerhaft müde, kann mich auf nichts konzentrieren, nicht mal ein Buch lesen. Es ist, als hätte man mir den Stecker gezogen!“
Wir reden lange und sie schildert eine Anzahl an diffusen Symptomen, die scheinbar nicht miteinander zusammenhängen: Müdigkeit, Wortfindungsstörungen, Haarausfall, Muskelschmerzen, der Blutdruck ist mal hoch und mal niedrig, der Puls rast gelegentlich.
Ich veranlasse einiges an Diagnostik in der Praxis und beim Kardiologen, aber alle Befunde, bis auf ein bekanntes Asthma bronchiale, sind unauffällig. Wochen, nachdem sie bei mir war, konnte sie auf mein Anraten hin einen Termin in einer Long-Covid-Ambulanz wahrnehmen und kam ganz begeistert zurück. Wirklich helfen konnte man ihr nicht, weil organisch bisher kein Problem festgestellt wurde. Aber sie fühlte sich ernst genommen und gut beraten - und nicht allein gelassen mit ihrem Problem.
Fallbeispiel 4:
Ein etwa 45-jähriger Mann kommt zum „Check-Up“, also zur Gesundheitsuntersuchung, die von den Krankenkassen alle drei Jahre bezahlt wird. Wir reden über seine Gesundheit und er berichtet, dass er vor einem halben Jahr eine Durchbruchsinfektion kurz nach seiner Booster-Impfung hatte.
„Die Infektion war halb so wild“, erzählt er. „Die Tochter hat es aus der Schule mitgebracht. Ich hatte Halsschmerzen, eine Erkältung eben. Aber ich habe Wochen gebraucht, bis ich wieder Sport machen konnte.“
In der Regel war der Mann fit und joggte regelmäßig 15 Kilometer. Nach der Infektion war er wochenlang müde, nicht belastbar und hatte beim Laufen, als er wieder begonnen hatte, einen viel zu hohen Puls. Nach etwa drei Monaten besserten sich die Symptome und nun läuft er wieder regelmäßig. Bei der Untersuchung stelle ich keine Besonderheiten fest, er scheint gesund zu sein. Dennoch hätte ich gerne ein EKG und eine Untersuchung gemacht, BEVOR er wieder mit dem Sport anfing.
Fazit für die Praxis und „Verhaltensanweisung“
Wie ich bereits eingangs erwähnte, kann ich hier keine vollständige Beschreibung aller Long COVID-Beschwerden schildern. Und nicht immer steckt „Long-COVID“ hinter den Symptomen, die wir im Rahmen einer Corona-Infektion feststellen.
Die Komplikationen können noch im Rahmen der akuten Infektion stattfinden, sie können parallel durch eine andere Erkrankung auftreten und sie können psychisch oder psychosomatisch verstärkt werden. Es gibt Studien zu Long COVID bei
Jugendlichen, die gezeigt haben, dass Long COVID existiert, da die Symptome wie Müdigkeit, Geschmacksstörungen, kognitive Störungen u.a. in der „Corona“-Gruppe deutlich häufiger auftraten, als in der Kontrollgruppe mit gesunden Jugendlichen. Doch auch in dieser Gruppe berichteten viele über die gleichen Beschwerden, die durch die psychische Belastung der Pandemie aufgetreten sind, allerdings in geringerem Ausmaß.
Oft lassen die beschriebenen Symptome auch nach einigen Wochen nach und eine Besserung zur alten Konstitution ist möglich.
Fakt ist aber, dass Long COVID ein massives Problem darstellt und bei manchen Patienten bis hin zur Bettlägerigkeit führen kann, denn die Fatigue, die fälschlicherweise oft als „Erschöpfung“ oder „Müdigkeit“ bezeichnet wird, kann Leben zerstören. Fatigue ist eine ausgeprägte Kraftlosigkeit, die dazu führt, dass selbst kleinste Belastungen, in schlimmen Fällen z.B. Augen öffnen und Sprechen, zu anstrengend sind. Die Forschung beschäftigt sich inzwischen intensiver mit der Thematik rund um ME/CFS und Long COVID, nachdem es früher eher als psychosomatische Erkrankung abgestempelt wurde.
Wichtig ist, sich in der Phase der Genesung nicht zu überlasten und es langsam angehen zu lassen. Das sogannte Pacing spielt dabei eine entscheidende Rolle: sich nicht zu überlasten („Geh doch einfach mal wieder laufen“) und seine Kräfte einzuteilen, kann eine Verschlimmerung verhindern. Denn nach einer kräftezehrenden Aktivität kann es zur sog. „Post exertional malaise“ kommen, einer deutlichen Verschlechterung der körperlichen und kognitiven Verfassung nach einer Anstrengung, wobei die Anstrengung schon ein Gang zum Einkaufen (oder weniger) sein kann. Also Dinge, die im Vorfeld locker weggesteckt wurden. Patient:innen berichten dann von regelrechten Zusammenbrüchen, wenn sie sich übernommen haben.
Fatigue und starke körperlichen Beschwerden treten auch nach anderen Virusinfektionen auf, beispielsweise nach Infektion mit dem Erreger des Pfeifferischen Drüsenfiebers EBV. Und wir wissen auch, dass es Viren gibt, die sich langfristig im Körper einnisten und nach Jahren noch und wieder krank machen können: HIV (macht langfristig das Immunsystem kaputt), EBV (kann auch Tumore auslösen), HPV (macht Krebs), HSV 1 und 2 (Herpes simples, macht immer wieder Bläschen und Aua), VZV (macht Gürtelrose).
Dass unsere Politik mit einem Virus, von dem wir die Langzeitfolgen nicht nicht wirklich abschätzen können, inzwischen so locker umgeht, ist mir unbegreiflich.
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Anonymität: Die Fallbeispiele sind zeitlich und personell verändert, um die Anonymität zu wahren.
Quellen:
https://www.infektionsschutz.de/coronavirus/basisinformationen/long-covid-langzeitfolgen-von-covid-19/#tab-4902-0
https://www.aerzteblatt.de/nachrichten/131651/Studien-untersuchen-Long-COVID-bei-Jugendlichen
https://longcoviddeutschland.org
https://www.mecfs.de/was-ist-me-cfs/pem/
https://www.rki.de/SharedDocs/FAQ/NCOV2019/FAQ_Liste_Gesundheitliche_Langzeitfolgen.html
https://www.helmholtz.de/newsroom/artikel/schuetzt-eine-corona-impfung-vor-long-covid/
https://apps.who.int/iris/bitstream/handle/10665/350195/WHO-2019-nCoV-Post-COVID-19-condition-Clinical-case-definition-2021.1-ger.pdf?sequence=1&isAllowed=y;%20https://www.nice.org.uk/guidance/ng188
Bild: pixabay, Engin_Akyurt.