Pflegenotstand, Landärztemangel, Kollaps - die Ressourcen sind verbraucht

Schon vor Jahren dachten wir Gesundheitsberufler: „Ja, Mensch, das mit unserem Gesundheitssystem kann ja kaum noch schlimmer werden! Es fehlt Personal, das Fallpauschalensystem ist gesundheitsgefährdend und Hausärzte komme auch keine nach.“ 

 

Das war vor einigen Jahren, als ich noch in der Klinik arbeitete und kurz danach in den ambulanten Sektor wechselte.

 

Aber, oh Überraschung, es ist schlimmer geworden. Die Corona-Pandemie kam im Frühjahr 2020 zu uns nach Deutschland und machte Tabula rasa mit dem kläglichen Rest des engagierten Personals, das bis dahin tapfer durchgehalten hatte. Zwei quälende Jahre sind seitdem vergangen und es haben Pflegekräfte in Massen gekündigt, Ärzt:innen die Krankenhäuser verlassen, um in alternative Berufe zu gehen und Patient:innen fühlen sich alleine gelassen.

 

Ich kann nur für mich als Hausärztin sprechen: Es ist manchmal nicht mehr zu ertragen. Denn am Ende sollen wir in den Praxen ausbaden, was an anderen Stellen kaputtgespart wurde. Wenn gar nichts mehr geht, wenn die Kliniken abgemeldet und keine Betten verfügbar sind, oder wenn keine Facharztpraxis erreichbar ist, dann ist das alles halb so wild, gell, denn dann spricht man einfach folgende Zauberformel langsam und laut aus: „Das - macht - der - Hausarzt!“

 

Abrakadabra! Problem gelöst. Oder nicht?

 

Bitte nicht krank werden!

 

Aktuell kann man allen Menschen nur raten, bitte nicht krank zu werden. Wie fein es wäre, könnten wir uns das aussuchen! Doch selbst wenn wir noch so gesund leben, oder jung und dynamisch unseren Weg gehen, so können wir uns dennoch auf eben diesem fies ein Bein brechen, unterwegs einen Tumor bekommen oder das eigene Kind erleidet eine Blinddarmentzündung. Gesundheit ist nicht selbstverständlich. 

 

Und wird man nun doch krank, so ist man von anderen Menschen mehr oder minder abhängig. Dass die Versorgung immer schwieriger wird, zeigen folgende Beispiele aus den letzten Monaten:

 

Beispiel 1: 

Ein hochbetagter Mann kommt aus der Klinik. Er hat ein neurologisches Krankheitsbild und baute im Krankenhaus massiv körperlich ab. Der behandelnde Klinikarzt entlässt ihn, wahrscheinlich aufgrund der zeitlichen Komponente, denn pro Patient erhält das Krankenhaus schließlich eine Fallpauschale und diese deckt nicht ab, wenn es einem alten und kranken Mann nicht gut geht. Der Patient kommt in Begleitung also zu uns und sagt: „Ich sollte nach der Entlassung sofort zum Hausarzt gehen, ich weiß nicht, was ich habe.“ Ich untersuche ihn und finde durch banales Abhören des Brustkorbes eine Lungenentzündung. 

 

Komisch ist das schon: früher schickten wir Menschen ins Krankenhaus, wenn sie sehr krank waren und wir am Ende der Behandlungsfahnenstange angekommen waren. Nun schicken uns die Kliniken die Patient:innen, weil sie keine Betten, kein Personal oder keine Kapazitäten haben. 

 

Beispiel 2:

Eine Patientin kommt einige Tage nach einer Gallenblasenentfernung zu uns. Sie hat Bauchschmerzen, was postoperativ natürlich für einige Tage der Fall sein kann. Aber so langsam sollten die Schmerzen nachlassen. Sie hat Fieber, und als ich den Entlassungsbrief studiere, sehe ich, dass sie mit steigenden Entzündungsparametern entlassen wurde. Manche Werte „hinken“ der Genesung hinterher, daher sollte nicht zu schnell geurteilt werden, wenn jemand mit nicht ganz optimalen Werten aus der Klinik nach Hause geht. Bei der Dame waren die Entzündungswerte aber sehr deutlich erhöht. Nach Ultraschall und Blutentnahme verschrieb ich ein Antibiotikum und konnte der Patientin helfen. 

 

Beispiel 3:

Patient:innen bekommen keine Termine für physiotherapeutische Behandlungen. Damit verzögert sich die Genesung von Erkrankungen, die eigentlich wunderbar mit Krankengymnastik und physikalischer Therapie behandelt werden könnte.

 

Beispiel 4: 

Termine bei Fachärzten gibt es „zeitnah“ (innerhalb von 4 Wochen) nur, wenn wir die Dringlichkeit verordnen oder selbst bei den Kolleg:innen anrufen. Sobald ich eine Überweisung für ein  MRT ausstelle, äußern Patient:innen die Bitte, dass ich doch dort anrufen und einen Termin machen möge. Würde ich dies aber tun, müsste ich den halben Tag nur telefonieren. Daher muss ich davon absehen und hinterlasse enttäusche Patient:innen („Keiner tut irgendwas!“).

 

Beispiel 5:

Termine bei Rheumatolog*innen sind grundsätzlich nicht verfügbar.

 

Beispiel 6:

Die aktuelle Coronawelle nimmt Fahrt auf und erfordert von uns mal wieder stundenlanges Telefonieren, um Sachverhalte zu klären und Erkrankte zu beraten. „Nebenbei“ werden täglich mehr PCR-Tests durchgeführt, die aber alle vor- und nachbereitet werden müssen. 

 

Beispiel 7:

Und ja, beinahe vergaß ich es: da sind ja auch noch die COVID-Impfungen, die wir Hausärzte AUCH SO NEBENBEI machen. 

 

Die Folgen spüren wir ganz direkt 

 

Die genannten Beispiele verdeutlichen, dass auch wir in den Praxen einen nicht unerheblichen Mehraufwand haben und den Patientenansturm bewältigen müssen. 

 

Ferner werden wir gerne auch mal von Patient:innen beschimpft. Weil sie im Krankenhaus schon Stunden gewartet haben und weil sie bei uns wieder warten müssen und weil sie Maske tragen sollen und weil sie Medikamente nicht "auf Kasse" bekommen und weil kein Arzt nie irgendetwas macht und weil die Impfung schuld ist an dem Blutdruck und überhaupt. Weil das Leben gerade nicht leicht ist. Die Unzufriedenheit ist wirklich gigantisch. 

 

Wir sind also Arztpraxis, Notaufnahme, Seelentröster, Impfzentrum, Testzentrum, Telefonzentrale und Fußabtreter in einem Paket. Toll, nicht wahr? 

 

Das ist ganz schön praktisch für die werten Politiker, die von oben herab mehr Überstunden fordern und uns auf harte Zeiten im nächsten Corona-Herbst einschwören wollen. Wo aber haben wir noch Ressourcen? 

 

Es gibt sie nicht mehr. Die Ressourcen sind aufgebraucht. Das kann auch Lavendel nicht mehr retten. 

 

Erst, wenn alle Pflegekräfte gekündigt und alle Hausärzt:innen aufgegeben haben, wenn kein Rettunsgwagen mehr verfügbar ist und wenn Patienten an Nicht-Behandlung sterben, dann - ja dann! - wird die Politik (vielleicht) merken, dass man in ein Gesundheitssystem investieren muss, um Steuerzahler, Überstundenleister und Babysitter von Überstundenleisternachwuchs in Form von Großeltern gesund zu halten.  

 

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Anonymität: Alle Patientenbeispiele sind zeitlich und personell abgewandelt.

 

Bild: Tama66, Pixabay