Vor mir sitzt ein hochbetagter, zuckersüßer und immer gut gelaunter Patient. Er lacht freundlich, aber weiß wie eine Wand ist er, als er berichtet: „Seit Tagen wird es immer schlimmer mit meiner Luft. Vom Parkplatz hinten am Netto bis hierher habe ich drei Pausen machen müssen. Ich weiß gar nicht, was los ist. Ich war doch immer gesund!“
Das „immer gesund“ lasse ich umkommentiert stehen, denn ich kenne seine zahlreichen Vorerkrankungen, die Menschen in seinem Alter eben so haben. Sein Herz ist auch nicht mehr das Stärkste, aber ich gebe ihm recht: Dieser radikale und zügige körperliche Abbau ist alarmierend.
Ich vermute, dass seine bekannte Herzschwäche sich verschlimmert hat. Also höre ich ihn ab, um Hinweise auf „Wasser in der Lunge“ zu bekommen. Man würde es dezent blubbern hören. Aber die Lunge hört sich frei und normal an, „vesikuläres Atemgeräusch“ sagt man dazu. Seine Beine sind schlank, kein Hinweis auf Ödeme, was ebenfalls gegen das Herz als Auslöser seiner Beschwerden spricht. Auch habe ich keine Lungenentzündung oder andere pathologische Atemgeräusche vernommen.
Ich hake also nochmal nach, es muss schließlich eine Ursache haben, die nicht nur sein hohes Alter sein kann.
„Herr Heinrich, haben Sie in letzter Zeit Fieber gehabt?“
Er schüttelt den Kopf.
„Andere Infektzeichen? Brennen beim Wasserlassen? Durchfälle? Haben Sie ungewollt Gewicht verloren oder Schwitzen Sie nachts das Bett nass?“
„Ja, ja, doch, da waren diese Durchfälle. Nachdem ich Antibiotika genommen habe, vom Zahnarzt, wissen Sie.“
„Aber die Durchfälle sind wieder weg?“
„Ja, aber schlimm waren die.“
„War denn auch Blut dabei?“
„Aber jede Menge!“ Er lacht laut auf, als habe ich Etwas Drolliges gefragt. „Die ganze Schüssel war voll. Aber das habe ich ja oft, durch die Blutverdünner!“
Er lächelt versonnen, als sei das wiederholte Bluten aus dem Darm eine kleine, liebevolle Macke seines Körper.
Aber nun ist die Diagnose klar und ich schicke ihn umgehend ins Labor zur Blutentnahme, damit wir den Verdacht auf eine Anämie bestätigen können. Eine Blutarmut würde seinen Leistungsknick, seine Blässe und die Atemnot erklären.
Eigentlich müsste ich ihn jetzt in ein Krankenhaus schicken, denn peranale Blutabgänge, Anämie und seine körperliche Schwäche sind dringend behandlungsbedürftig. Und oft genug stecken hinter Darmblutungen auch bösartige Erkrankungen.
Insgesamt weise ich wenige Patienten in eine Klinik ein und behandle sehr viele Krankheiten ambulant. Das bedeutet manchmal auch, Patienten täglich oder mehrfach in der Woche einzubestellen und viel Diagnostik selbst zu machen. Das liebe in an meinem Job und das macht die Arbeit als Landärztin für mich aus: Allrounder zu sein, viel selbst zu tun und seine Patienten langfristig zu begleiten.
Aber in einen Darm kann ich eben nicht reinschauen.
Ich rede ein offenes Wort mit dem Patienten und bestelle ihn für den nächsten Tag wieder ein. Als er dann am anderen Morgen auftaucht, erkläre ich ihm, dass sich meine Verdachtsdiagnose „Blutarmut“ bestätigt hat und seine Werte so schlecht sind, dass ich ihn zur weiteren Diagnostik und Therapie in ein Krankenhaus einweisen möchte. Er ist umgehend einverstanden. Die Schwäche ist ihm deutlich anzusehen.
Die Suche nach einem Bett
Nun heißt es, sich um ein Krankenhausbett zu bemühen. Wir hier auf dem Land haben nicht die freie Auswahlmöglichkeit zwischen mehreren Stadtkrankenhäusern, sondern schicken in der Regel in das nächstgelegene Krankenhaus der Grund- und Regelversorgung, etwa 15 km von uns entfernt. Es gibt im weiteren Umkreis von etwa 25 bis 40 Kilometern noch weitere Kliniken, oft behagt es den Patienten aber nicht, weiter entfernt aufgenommen zu werden.
Also versuche ich mein Glück in unserem ländlichen Krankenhaus und spreche mit einem sehr netten Kollegen, der mir aber nur sagen kann: „Es tut mir leid, wir sind abgemeldet. Es wird vielleicht jemand gegen Nachmittag entlassen, aber das weiß ich noch nicht.“
Ich bedanke mich und versuche es im nächsten Haus. Mit dem gleichen Ergebnis. „Sorry, wir sind abgemeldet.“
Wann immer ich in letzter Zeit jemanden in eine Klinik schicken musste, war das Ergebnis das Gleiche: „Wir haben kein Bett frei.“ Die Kolleginnen und Kollegen in den Klinken können nichts dafür. Es fehlt an Personal und Patient:innen können nicht versorgt werden.
Ich erklärte meinem Patienten, dass wir die Einweisung über die Rettungsleitstelle laufen lassen müssen und die Kollegen vom Rettungsdienst dann klären, in welcher Klinik ein Bett zu haben ist.
Zugegeben, ich könnte auch bei dem sogannten „IVENA“-System im Netz nachsehen, welche Klinik aktuell Patienten aufnehmen kann. IVENA steht für „Interdisziplinärer Versorgungsnachweis“ und zeigt freie Kapazitäten von Krankenhäusern und Fachabteilungen an.
Aber das lässt meine Zeit nicht zu, denn das Wartezimmer ist voll und das Abtelefonieren von mehreren Kliniken kostet Zeit. Denn bloß, weil ein Krankenhaus nicht abgemeldet ist, heißt es nicht, dass es maßlos freie Kapazitäten hat.
Ich erinnere mich an meine Krankenhauszeit: Wie oft waren wir als „frei“ im System gekennzeichnet, weil irgendwo im Haus ein Bett frei war, aber das Personal fehlte, die Notaufnahme platzte aus allen Nähten und wir alle waren am Dekompensieren. Wir haben damals schon regelmäßige weinende Mitarbeiterinnen und schreiende Kollegen erlebt, weil der Druck zu groß war. Wie mag das jetzt nur sein?
Immerhin versorgt
Mein Patient wird also vom Rettungsdienst abgeholt und nun geht alles seinen Gang. Er wurde schließlich in ein Krankenhaus der nächsten größeren Stadt gebracht, weiter weg von zuhause, als ihm lieb war. Aber immerhin konnte er versorgt werden.
Neulich wollte eine Patientin, dass ich ihr ein Bett in dem Krankenhaus ihrer Wahl besorge. „Sie müssen doch nur sagen, dass Sie Ärztin sind und das Bett brauchen! Das MUSS doch gehen. Ich muss doch versorgt werden!“ Sie war ungehalten.
„Stimmt, ja, das müssen Sie. Aber ich kann kein Bett herbeizaubern. Und ich als kleine Landärztin habe keinen Einfluss auf die Betten- und Personalsituation in der Klinik.“
Die Versorgung wird schlechter. In allen Belangen. Die Wartezeiten ambulant haben deutlich zugenommen, wir finden manchmal keine wohnortnahen Krankenhausbetten, Facharzttermine liegen in der fernen Zukunft, Krankengymnastik ist zeitnah auch nicht möglich und Psychotherapieplätze gibt es gefühlt gar nicht mehr.
Der Kranke an sich bringt eben kein Geld ein, wie zum Beispiel ein unzufriedener Urlauber am Flughafen. Deswegen ist der politische Wille, die Situation zu verändern, wohl nicht gegeben.
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Anonymität: Wie immer ist die Fallgeschichte hinsichtlich der Person, des zeitlichen Ablaufs und der Umstände fiktiv. Es geht im Kern im die Erkrankung.
Bild: pixabay, KarinKarin.