Es ist einige Jahre her. Ich arbeitete noch in der Notaufnahme und eines abends in der 24h-Schicht kam eine junge Frau fußläufig zu uns. Sie hatte starke Kopfschmerzen, die sie mit Paracetamol und Ibuprofen in den Griff zu kriegen versuchte. Doch nichts half. Ihr Mann brachte sie zu uns, weil sie sich aufgrund der Kopfschmerzen nicht in der Lage fühlte, selbstständig zu erscheinen. Sie hatten ein kleines Kind, das sie vorher noch zu den Großeltern gebracht hatten.
Erstmal klang es nicht so richtig nach Notfall, schließlich konnten sie offenbar noch das Kind wegbringen und alleine in die ZNA kommen. Aber Menschen schaffen auch im echten Notfall noch manchmal Übermenschliches, gerade wenn es um die Versorgung der eigenen Kinder geht.
Die junge Frau wurde also ins Zimmer gebracht, am Monitor verkabelt und aufgenommen. Dort lag sie dann, regungslos und mit geschlossenen Augen.
Während wir sie aufnahmen, befragte ich sie.
„Hatten Sie schon einmal solche Kopfschmerzen?“
Sie konnte nicht mal den Kopf schütteln, weil ihr jede Bewegung wehtat.
„Nein, noch nie. Und nichts hilft“, antwortete sie matt.
„Und haben Sie manchmal Migräne?“
„Ja, schon. Aber das fühlt sich anders an. Und normalerweise hilft Ibuprofen dann gut.“
Ich wurde hellhörig, als sie mir sagte, sie habe noch nie im Leben solche Kopfschmerzen erlebt. Ich hatte kein gutes Gefühl und dachte trotz des jungen Alters an eine Hirnblutung. Eine spezielle Art von Hirnblutung (Subarachnoidalblutung) tritt auch bei jungen Menschen auf, wenn ein Aneurysma, eine sackartige Gefäßerweiterung, im Kopf platzt.
Ich legte meiner Patientin einen venösen Zugang, gab ihr ein Schmerzmittel (das ihr auch nicht half), während ich mit der Intensivstation telefonierte (für den Fall der Fälle) und ein CT (Computertomografie) anforderte.
Wegen des CTs erntete ich genervte Blicke von einem Sanitäter, der in der ZNA arbeitete, und sie zum CT fahren sollte: „Das ist doch nur Migräne, schick sie heim.“
Eine Kollegin sagte: „Sie ist bestimmt auch erschöpft, so mit kleinem Kind.“
Ich höre mir immer die Ratschläge und Meinungen meiner Kolleg:innen an, auch die Anwesenden an dem Abend schätzte ich sehr. Aber in diesem Fall packte mich die Wut, weil ich bei dieser Patientin ja ein ganz schlechtes Gefühl hatte. „Mach es einfach“, sagte ich zum Sanitäter. Er verdrehte die Augen und brachte die Patientin in die Radiologie.
Wenige Minuten später rief mich die Radiologin an und bat mich, zu kommen. So etwas geschah nur, wenn etwas Ungewöhnliches gesichtet wurde. Daher ging ich sorgenvoll zur Kollegin.
Die Radiologin saß vor dem Computer, vor sich das Bild des Kopfes in Großaufnahme.
„Das ist nichts Gutes“, verkündete sie und zeigte auf eine undefinierbare, wolkige Struktur, die den gesamten rechten Frontallappen durchzog. Wie ein wüstes Spinnennetz sah es aus; normale Hirnstruktur war an dieser Stelle nicht mehr zu erkennen. Mir drehte sich der Magen um.
Mit dem Befund in der Hand ging ich zu dem Sanitäter, knallte den Zettel mit der CT-Aufnahme auf den Tisch und fauchte ihn an: „Rede mir nie wieder in meine Arbeit rein!“, während mir die Tränen in den Augen standen. Er schwieg betroffen. Dann stand er auf, ging auf mich zu und nahm mich in den Arm.
Frauen haben Hormone, Männer sind unverwundbar
Normalerweise bin ich nicht so „von oben herab“ und erkläre den anderen, was sie zu tun haben. In diesem Fall hatte ich mich massiv geärgert, weil ich zum einen ein sehr schlechtes Gefühl hatte, was meine Patientin anging. Und dieses Gefühl hat mich während meiner ärztlichen Tätigkeit immer gut geleitet. Gleichzeitig war ich sauer, dass die Patientin so abgestempelt wurde: Frau, kleines Kind, müde - das wird schon einfach der Stress sein.
Das passiert leider nichts so selten, dass mir Patientinnen berichten, sie fühlten sich nicht ernst genommen. Bei Bauchschmerzen stecken dann Regelschmerzen dahinter und man empfiehlt ihnen ein Körnerkissen. Eine meiner Patientinnen bekam in der Apotheke ein Schmerzmittel gegen Regelschmerzen nur verkauft mit dem Hinweis, dass sie lieber eine Wärmflasche nutzen solle. Der Ratschlag kam von einem Mann.
Bei Frauen wird oft ein psychischer oder hormoneller Faktor von Erkrankungen angenommen: es sind der Stress, die geringe Belastbarkeit, die Wechseljahre, die Hormone.
Gleichzeitig wird ein Mann als unverwundbar und stark betrachtet. Ein Mann bekommt keine Depression. Ein Mann hat auch keine Schmerzen, und wenn, dann muss es quasi tödlich sein und er bekommt ein CT. Ein Mann friert ja auch nicht, er zittert vor Wut, weil es nicht noch kälter ist.
Diese Ungleichbehandlung der Geschlechter in der Medizin nennt man Gender Health Gap. Und die einen oder anderen mögen beim Wort „Gender“ nun die Augen verdrehen und sagen: „Schon wieder so ein neumodischer Kram.“
Doch das Thema ist nicht so neu, wie es vielleicht scheint. Schon seit einigen Jahren hält es glücklicherweise Einzug in die Hörsäle und man schenkt den Unterschieden zwischen Mann und Frau mehr Aufmerksamkeit. Denn die Unterschiede sind nun mal gegeben. Die Physiologie ist eine andere: Männer und Frauen haben einen unterschiedlichen Körperbau, eine andere Fettverteilung, hormonelle Einflüsse, verschiedene psychische Regulationsmechanismen und können auf manche Medikamente unterschiedlich reagieren.
Natürlich darf nicht vergessen werden, dass es auch große interindividuelle Unterschiede gibt: Körpergröße, Gewicht, Nieren- und Leberfunktion oder Interaktionen mit anderen Medikamenten. Das sind Faktoren, die einen Einfluss auf die Wirkung von Arzneimitteln haben, unabhängig vom Geschlecht. Doch die Tatsache, dass Medikamente bei den Geschlechtern unterschiedlichen Effekt haben können, wurde lange gerne vernachlässigt.
Es ist gut, dass nun mehr Augenmerk auf die Ungleichbehandlung in der Medizin gelegt wird. Denn es geht ja schließlich nicht nur um einen feministischen Aufschrei: „Wir Frauen müssen gleichberechtigt behandelt werden und dürfen genauso krank sein wie Männer!“ Sondern es geht eben genau darum, dass Männer und Frauen ihre physiologischen Eigenschaften haben, die man nicht ignorieren kann.
Das kommt auch Männern zugute. Man weiß, dass sich eine Depression bei Männern häufig nicht nur in der klassischen Antriebslosigkeit und Hoffnungslosigkeit äußert, sondern auch durch Aggressivität und Wut. Das wird dann einfach als männliche Eigenart abgetan.
Oder am Beispiel ADHS (Aufmerksamkeitsdefizit/ Hyperaktivitätsstörung):
Jungs, die zappelig oder in der Schule die „Störenfriede“ sind, werden gerne eben mal als „schwierige Kinder“, "Jungs eben" abgestempelt. Dass ein ADHS dahinterstecken kann, wird erst nach einer längeren Zeit gemerkt. Gleichzeitig wird es bei Mädchen häufig übersehen, weil sie eben seltener motorisch hyperaktiv sind, sondern eher still vor sich hin träumen und mit ihren Gedanken woanders sind.
Auch das Thema Vorsorge betrifft der Gender Health Gap: Frauen gehen bereits in jungen Jahren regelmäßig zur Vorsorge, das gehört einfach dazu.
Männer werden erst im Erwachsenenalter von der Partnerin geschickt, weil sie so lange nicht beim Arzt waren. Dabei gibt es viele Vorsorgeprogramme unabhängig vom Geschlecht bei der Hausärztin oder dem Hausarzt eures Vertrauens: Der sogenannte Check-Up, Hautkrebsscreening, Test auf okkultes Blut im Stuhl, Männervorsorge, Darmspiegelung, Ultraschall der Bauchaorta für Männer und noch ein paar mehr.
Bewusstsein schaffen für die Unterschiede
Mir ist es wichtig, das Bewusstsein dafür zu schaffen, dass Unterschiede vorhanden sind und sich Symptome bei Krankheit je nach Geschlecht anders äußern kann. Es wäre schön, wenn diese Tatsache im Laufe der nächsten Jahre noch mehr mit in den diagnostischen Prozess einbezogen wird und dieser stärker personalisiert wird.
Noch schöner wäre es, wenn wir mehr Zeit für die „sprechende Medizin“ hätten, um individueller auf jeden Einzelnen eingehen zu können. Vielleicht ist dieser Text ein kleiner Baustein in der Entwicklung.
Und um die Geschichte der Patientin zu vervollständigen: ich verlegte sie in eine große neurochirurgische Klinik. Dort wurde eine Gefäßfehlbildung festgestellt und die junge Frau konnte behandelt werden.
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Bild: Pixabay, geralt