Einen Teil meiner Kindheit verbrachte ich in einem schwäbische Städtchen. Dieses befindet sich in der Nähe des Bodensees und hat mehrere Kirchen, eine davon mit einem großen Kirchplatz und einem für die Region typischen Zwiebelturm, ein eigenes Schlösschen, eine gute Infrastruktur und ist umgeben von Natur, Wäldern, Landschaften und geizigen Schwaben, die an Fasching (Fasnet, wie man dort sagt) großzügig über sich hinauswachsen, drei Bonbons (Guezele) in die Menge schmeißen und den sogenannten Katzendreck backen – eine himmlische, schokoladenüberzogene Kuchenspezialität in Form eines Katzenhäufchens. Zum Schnurren köstlich.
Zu dem schwäbischen Dorf gehörte natürlich auch ein Arzt. Der Herr Doktor. Und zum Herrn Doktor gehörte eine Ehefrau, die Frau Doktor. Frauen waren damals noch als Doktor-Frauen in der oberen Gesellschaftsschicht angekommen. Heutzutage muss man selbst dafür buckeln, Frau Doktor zu werden und sich seinen Landarzttraum zu erfüllen.
Das Haus des heiligen Herr Doktors stand mitten im Dorf an einer großen Straße und war mit Holz beschlagen und sah beinahe so aus wie die kleinere Schwester der Schwarzwaldklinik.
In dieser Praxis wurde alles behandelt, was das Medizinstudium hergibt: vom Zeckenstich bis Hundebiss, von Ausschlag bis Warzenentfernung, von Allergie bis Onkologie. Dass er nicht selbst aufwändiger operierte und Herzkatheter schob, lag sicherlich nur an der Sparsamkeit der schwäbischen Patienten, die auf ein Angebot „Herzkatheter – heute zwei Stents zum Preis von einem“ warten. Es brauchte eigentlich keinen anderen Arzt, denn der Herr Doktor konnte selbstredend alles und praktischerweise hatte er auch noch einen Gynäkologen mit im Praxisgefüge, so dass seine Räumlichkeiten bereits vor 30 Jahren ein Medizinisches Versorgungszentrum (MVZ) waren, als von Landarztmangel noch nicht die Rede war.
Landarztmangel hier...
Nun sind wir aber in Landarztmangel-Zeiten angekommen und ich stecke als Fachärztin mitten drin. Die romantischen Vorstellungen vom liebevoll lächelnder Patientenbehandlung und freien Mittwochnachmittagen in der Natur (oder beim Golfspielen) sind leider passé.
Der Beruf als Landärztin ist wunderschön und ich möchte keinen anderen Beruf dieser Welt ausüben, dennoch tun unser marodierendes Gesundheitssystem und die Jahre der Pandemie uns allen in dem System arbeitenden nicht gut. In den Kliniken fehlt das Personal an allen Ecken und Enden und auch im ambulanten System, das immerhin frei von Nacht- und Wochenenddiensten ist, kann man dem Arbeiten nicht mehr nur schöne Seiten zuschreiben.
In meiner ländlichen Region gibt es beispielsweise 7,5 freie Versorgungsaufträge - sprich „Kassensitze“. Und der nächste Hausarzt hört demnächst auch schon wieder auf und hat keinen Nachfolger bzw. keine Nachfolgerin gefunden.
Ich kann es verstehen. Auch ich habe mich (erst einmal) dagegen entschieden, in die Selbständigkeit zu gehen, jedoch mit dem festen Ziel, in eine Praxis als Teilhaberin einzusteigen. Ursprünglich wollte ich dies unmittelbar nach meiner Facharztprüfung angehen, aber meine Lebenssituation als Getrennterziehende mit zwei Kindern lässt mich aktuell noch den sicheren Angestelltenhafen suchen. Denn der bürokratische Aufwand, den eine Praxis mit sich bringt, ist nur in Gemeinschaftsarbeit und viel Zeit zu bewältigen. Es sind ja nicht nur die Massen an Patient:innen, die es zu bewältigen gibt. Da wären noch die IT-Systeme, die immer am Laufen gehalten werden müssen, Personalmanagement oder die Abrechnung mit verschiedenen Abrechnungssystemen (EMB, HZV, privat). Es ist ratsam, wenn sich eine Fachkraft hauptsächlich um die Abrechnung kümmert oder man jemanden als Praxismanger:in einstellt. Aber auch das muss bezahlt und erwirtschaftet werden.
Landarztmangel dort...
Aus dem Grund gibt es immer mehr MVZ, die sich die Infrastruktur und das Personal teilen, im Schichtsystem arbeiten und so auch mehr Personal - sei es ärztlich oder nicht ärztlich - rekrutieren können. Denn viele Eltern, zumeist Frauen, die sich um Kinder kümmern, können nicht ins Vollzeit arbeiten, nicht einmal in den verhältnismäßig guten Bedingungen der Praxis. Manche möchten auch nicht Vollzeit arbeiten, was legitim ist. Die Kinder kommen mittags von der Schule oder aus dem Kindergarten, haben Hausaufgaben, Sportvereine, Musikunterricht, Verabredungen oder einfach Zeit zuhause. Ich persönlich möchte meine Kinder versorgen können und dennoch meinem Beruf nachgehen, den ich so mag. Daher arbeite ich in Teilzeit.
Die Entwicklung geht wohl auch auf dem Land in die Richtung, dass es mehr MVZ oder große Gemeinschaftspraxen geben wird und die Einzelpraxis als Modell nur vereinzelt zu finden sein wird.
Man muss mit der Zeit gehen und das Beste aus der Situation machen, so lange die Politik lieber Geld in Gesundheitskioske steckt, als in die Niedergelassenen, damit sie die vielen Patient:innen medizinisch hochwertig versorgen kann. Hoffentlich kommt irgendwann das Umdenken: mit dem Ausbau des ambulanten Sektors werden auch die Kliniken entlastet. Ich werde noch 25 Jahre als Landärztin arbeiten. Womöglich werde ich den Wandel noch erleben.
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