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Resilienz - Irgendwas ist ja immer!

CN: Es werden Traumata der Kindheit und Verluste thematisiert. 

 

„Immer is’ ja irgendwas!“ Die Patientin reißt die Arme nach oben und verdreht genervt die Augen. „Das ist die dritte Erkältung in diesem Jahr!“

Ich schaue sie an und nicke. Nervig, völlig verständlich. Drei Erkältungen in einem halben Jahr finde ich jetzt nicht exorbitant viel, aber ärgerlich ist es allemal, wenn man immer Schnupfen und Husten hat. 

 

„Erst kam die Kleine mit Husten aus dem Kindergarten, dann hatte ich das, dann der Mann. Danach diese Bronchitis und jetzt gleich schon wieder.“

„Ja, ärgerlich, kann ich verstehen“, sage ich. „Aber mit Kindern im Kindergartenalter leider völlig normal, dass man auch nochmal alle Viren mitnimmt, die die Kinder heimschleppen.“

„Das ist mir aber zu viel!“

 

Hm, was soll ich dazu sagen, ich kann ihre Situation nicht verbessern. Und eigentlich ist sie wegen der Auswertung ihrer MRT-Untersuchung da. Also wechsle ich gekonnt feinfühlig das Thema: „Aber Sie sind ja eigentlich wegen des MRT-Befundes da.“ 

Es ist manchmal wie ein Pflaster abzureißen - schnell und ruckartig. Gerne hätte ich mehr Zeit für meine Patienten, aber ich muss leider die Uhr im Blick behalten. 

Sie nimmt es mir auch nicht übel, sondern hört interessiert zu. 

 

„Wir haben ja ein MRT des Rückens veranlasst. Sie haben eine kleine Vorwölbung der Bandscheibe im unteren Rücken, aber keinen Bandscheibenvorfall! Also kein Kontakt zu den Nervenbahnen, sondern eher eine häufig vorkommende Verschleißerscheinung. Nichts, was wir jetzt akut behandeln müssten, aber sie sollten die Rückenmuskulatur aufbauen.“

„Na toll, auch das noch!!“ Sie sackt förmlich in sich zusammen, sinkt auf dem Stuhl in die Lehne und lässt die Arme hängen. „Wann soll ich das denn noch machen!? Irgendwas ist ja immer….!“

 

Meine Patientin ist eine von den Menschen, die schlechte Nachrichten nicht sonderlich gut verdauen können. Das gibt es sowohl bei Weiblein als auch bei Männlein, ist also - meinen Beobachtungen zufolge jedenfalls - kein geschlechtsspezifisches Phänomen.

 

Aber war die Nachricht nun so schlecht? Eine Bandscheibenvorwölbung ist eigentlich kein Drama und sicher nicht der Grund für die Rückenschmerzen. Generell gehört solch ein Befund eher in die Schublade „Durch Zufall entdeckt und als Auslöser befunden“, obwohl der Befund nicht der Auslöser sein wird. Wahrscheinlich sind eher Bewegungsmangel, Muskelschwäche und auch Stress daran schuld. Rückenschmerzen werden in einem Großteil der Fälle als unspezifisch bezeichnet, weil es keinen akuten Auslöser gibt, wie zum Beispiel einen BandscheibenVORFALL, bei dem das Innere der Bandscheibe nach außen gequetscht wird und die Nervenfasern einklemmt. 

 

Für meine Patientin ist die Protrusion (die Vorwölbung) allerdings ein kleines Drama und die Bestätigung, dass einfach alles immer doof ist. Sie ist ein Paradebeispiel dafür, dass zu viel Diagnostik auch schaden kann. Das muss ich wohl auf meine Kappe nehmen. Aber es ist auch nicht immer leicht, die Schmerzen eines Menschen, die ja immer subjektiv sind, objektiv zu bewerten. Und gerade wenn eine Person ihre Schmerzen als massiv wahrnimmt, wer wäre ich dann, dies zu leugnen? 

Jeder Mensch wird mit einer anderen Schmerzwahrnehmung und einer eigenen Resilienz für unvorhergesehene Ereignisse geboren. 

 

Eine Seele wie ein Gummiband 

 

Mit Resilienz wird in der Psychologie die Widerstandsfähigkeit des Menschen bezeichnet. Es geht um den Vorgang, mit dem eine Person auf Probleme und Hindernisse reagiert und ggf. das Verhalten anpasst. Es geht also darum, wie gut man sich von Schicksalsschlägen erholen kann und ob man daran zerbricht oder nicht. 

 

Der Begriff kommt ursprünglich aus der Materialkunde: Ein Material, das nach extremer Spannung wieder in den Ursprungszustand zurückkehrt, ist resilient.

 

Jeder Mensch hat eine eigene angeborene Resilienz, diese ist abhängig von den Genen, den Erfahrungen und dem sozialen Umfeld. Der Prozess der Resilienz, also der Erholung nach einem Schicksalsschlag oder einer schlechten Nachricht, umfasst mehrere Faktoren:

  • Zum einen den Auslöser, also den Stressfaktor oder das Trauma und wie schlimm das Ereignis war. Das Empfinden über den Schicksalsschlag ist subjektiv. 
  • Zum anderen die eigenen Ressourcen, mit Stress und Schicksalsschlägen umzugehen. Diese sind vom eigenen Selbstwertgefühl, von der Lebenseinstellung und der Unterstützung aus dem sozialen Umfeld abhängig. Die familiäre Bindung und die Kindheit spielen hierbei eine große Rolle. 
  • Zu guter Letzt gehört zu dem Prozess der Resilienz auch die Verhaltensänderung, die gewollt oder nicht gewollt sein kann, aber in letzter Instanz als Konsequenz durch die schlechte Nachricht ausgelöst wurde. Beispielsweise nach dem Verlust einer geliebten Person das Leben alleine weiterführen zu müssen - das ist eine Verhaltensänderung, die ungewollt war, aber nicht zu vermeiden ist. Sich nach einer Diabetes-Diagnose zu besinnen und alle Süßigkeiten aus dem Fenster zu schmeißen ist eine Verhaltensänderung, die man selbst herbeiführt. 

 

Ein Beispiel: Leben mit Schlaganfall 

 

Das alles klingt sehr abstrakt, daher möchte ich es noch an einem Beispiel verdeutlichen.

 

Vor nicht allzu langer Zeit war eine Patientin in meiner Sprechstunden, die stark erkältet war. Sie nahm es gelassen. „Das geht ja wieder weg, ich möchte nur mal abgehört werden. Ich pflege meinen Mann und muss fit bleiben.“

 

Was mich an meinem Job immer sehr fasziniert, sind die Menschen und ihre Lebensgeschichten. Daher hakte ich nach: „Was hat ihr Mann denn, warum müssen Sie ihn pflegen?“

„Er hatte vor 10 Jahren einen Schlaganfall mit Halbseitenlähmung. Die Lähmung ist geblieben, er braucht viel Unterstützung. Also eigentlich bei Allem, beim Waschen, Essen und er kann nicht laufen.“

„Oh, das tut mir leid. Das ist bestimmt anstrengend für Sie. Und für ihn natürlich auch…“

„Ja, schon. Aber wissen Sie was?“ Sie lacht mich freundlich an. „Wir lieben unser Leben. Das sagt mein Mann auch. Er sagt immer: ‚Das ist nun mal mein Leben, das muss ich annehmen.’ Er ist glücklich und wir sind froh, dass wir uns haben. Man kann sich sein Schicksal nicht immer aussuchen, aber wir machen das Beste draus!“

 

Das Gespräch hat mich beeindruckt. Ich selbst habe auch Zeiten im Leben erlebt, von denen ich nicht dachte, dass ich sie ohne große Narben überstehe. Meine Jugend war eher unschön aufgrund familiärer Umstände, ich musste den Verlust meiner Mutter mit Ende 20 erleben, hatte eine Scheidung, die Implantation eine Defibrillators und bin wohne mit meinen Kids alleine. Aber irgendwie sind die Narben nicht so groß, nur die des Defis ist ca 5 cm lang. Geht also noch.

Ich habe gelernt, dass es weitergeht. Ich habe viele liebe Menschen in meinem Leben, Familie und Unterstützung.

 

Und glücklicherweise musste ich nicht erleben, dass es nicht weitergeht. Andere Menschen haben schlimmere Schicksale. Krankheiten, die man nicht mit einem kleinen Metallgerät beheben kann. Schicksale, die in der Kindheit die Kindheit raubten. Verluste, die noch früher auftraten als mit Ende 20. Kriege, Hunger, Einsamkeit.

 

Ich persönlich bin dankbar für alles, was ich habe. Daher kann ich manchmal nicht so nachempfinden, wie man an einer Erkältung verzweifeln kann. 

Doch wie ich oben schrieb: Die Fähigkeit zur Resilienz ist abhängig von so vielen Faktoren, dass auch ich mich innerlich schimpfen muss, wenn ich andere Verhaltensweisen als lapidar verurteile. Schließlich stecke ich nicht in deren Schuhen, habe nicht deren Kindheit erlebt, nicht deren Umfeld erfahren. 

 

Die eigene Widerstandsfähigkeit stärken 

 

Aber man kann seine Resilienz „trainieren“. Man kann sich bewusst kleineren Konflikten aussetzten und die Widerstandskraft üben. Man kann in sich gehen und immer wieder, peu a peu, versuchen, die innere Einstellung zu verändern: "Jetzt geht es mir schlecht, aber es wird wieder besser werden.“

 

Und man muss ins Handeln kommen. Wer sich hinsetzt und wartet, dass andere die eigenen Probleme lösen, der gibt die Kontrolle über die Situation ab und fühlt sich hilflos. Selbst der erste Schritt hilft, sich aus der Starre zu lösen. Oft gehört auch psychologische Hilfe dazu. 

 

Das heißt natürlich nicht, dass man nicht weinen, jammern oder sich auch mal fallen lassen darf. Jede schlechte Situation darf auch mal ordentlich beweint werden, auch das gehört zum Verarbeitungsprozess. 

 

Mein persönlicher All-Time-Favorite ist (ihr dürft jetzt gerne mit den Augen rollen): Sport. Bewegung hat mir immer geholfen, weiterzumachen, Stress abzubauen und mich gut zu fühlen.

 

Und ein großer Käsekuchen, der gehört auch dazu. 

 

Jetzt habe ich aber gerade keinen.

 

Toll.

 

Irgendwas ist ja immer. 

 

 

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Bild: Pixabay, clker-free-vector-images