„Ulrike, da ist jemand, den solltest du dir dringend jetzt sofort anschauen!“
Meine MFA kommt auf mich zu gelaufen und erzählt: „Eigentlich stand er an der Anmeldung und wollte nur Ibuprofen und eine Krankmeldung, weil er mit dem Fuß umgeknickt ist. Er war auch in der Notaufnahme. Aber … heilige Scheiße… den Fuß musst du dir anschauen. Der sieht nicht gut aus!“
Alarmiert folge ich ihr. Wahrscheinlich ein Bänderriss, denke ich mir. Und blitzeblau. Das kann dann schon fies aussehen. Aber so schlimm?
Als ich das Zimmer betrete wiederhole ich leise im Geiste das „Heilige Scheiße“ meiner Kollegin. Das ist kein Fuß mehr, das ist ein Klumpen.
„Guten Morgen… was ist Ihnen denn passiert??“, frage ich entgeistert und schaue mir den Fuß aus der Nähe an. Er ist massiv angeschwollen, der Fuß steht in Dorsalextension (also nach „oben gezogen"), die Ferse ein einziges Hämatom, die Schwellung reicht bis in den Unterschenkel hinein. Der Fuß ist ab dem Knöchel kalkweiß, die Durchblutung hier offenbar gestört. Zusätzlich finden sich an der Außenseite des Knöchels dicke Spannungsblasen. Das ist kein Fuß, den ich hausärztlich behandeln kann. Hier sieht man ohne Röntgenblick, dass der Knochen deutlichen Schaden genommen hat.
Mein Patient erzählt: „Ich bin von einer Leiter abgerutscht und etwa zwei Meter nach unten gestürzt und auf den Füßen gelandet. Ich weiß nicht mal mehr, ob ich umgeknickt bin, es hat nur höllisch weh getan. Wir sind dann in die Notaufnahme gefahren und es wurde geröntgt, aber es ist keine Fraktur.“
Ich lese mir den Brief durch: „Ausschluss Fraktur erfolgt, Verdacht auf Bänderriss. Vorstellung bei Hausarzt bei ausbleibender Besserung.“
Da stellen sich mir gleich zwei Fragen: Was soll ich als Hausärztin mit einem Bänderriss machen? Auch ein Bänderriss dieses Ausmaßes muss mit Hilfe einer Orthese oder Bandage versorgt werden. Und zweitens: Wie kann man davon ausgehen, dass ein Fuß mit diesem Verletzungsmuster nicht gebrochen ist? Das muss man einfach anzweifeln und ein CT machen.
Also schicke ich ihn quasi retour: Wieder ins Krankenhaus, wieder in die Notaufnahme. Es tut mir so leid für ihn, aber es besteht der Verdacht, dass er nicht nur eine schwere Verletzung am Knochen hat und ggf. ein CT benötigt, wenn das Röntgenbild die Verletzung nicht zeigt. Außerdem sieht es aus wie ein beginnendes Kompartmentsyndrom.
Das Kompartementsyndrom - ein chirurgischer Notfall
Ein Kompartement ist ein Krankheitsbild, bei dem aufgrund einer Verletzung im Unterschenkelbereich (oder auch im Unterarmbereich) der Gewebedruck innerhalb der Muskulatur in ihren abgegrenzten Logen so ansteigt, dass sie sich die eigenen Blutversorgung abdrückt und zu Schäden an Muskeln und Nerven führt. Das Kompartementsyndrom kann auch nach Quetschverletzungen, nach Marathonläufen, nach Venenthrombosen oder - in unseren Breitengraden extrem selten - Schlangenbissen oder Insektenstichen auftreten.
Ein akutes Kompartementsyndrom beispielsweise infolge einer Fraktur muss druckentlastet werden: Man spaltet die Faszien (Dermatofasziotomie) und eröffnet damit die Muskellogen, um den Druck zu nehmen. Täte man dies nicht, könnte die betroffene Extremität im schlimmsten Fall verloren gehen, weil man die nekrotischen Anteile amputieren muss. Durch den druckbedingten Muskelzerfall (Rhadomyolyse) wird Myoglobin aus dem Muskel freigesetzt und die Niere geschädigt, sie verstopft durch das Myoglobin, um es salopp zu sagen. Darüberhinaus werden Zellzerfallsprodukte wie Kalium und Zytokine freigesetzt, was zum Tode führen kann.
Im nicht schlimmsten Fall bleiben starke Schäden wie Kontrakturen oder Verluste von Muskelgruppen an der Extremität zurück.
Wenn die Muskellogen gespalten werden, dann dauert es lange, bis die Muskulatur soweit abgeschwollen ist, dass die Wunde wieder vernäht werden kann. Gedeckt werden die offenliegenden Muskeln dann durch Spalthaut oder einen Vakuumverband.
Mit dieser Szenerie vor Augen schicke ich meinen Patienten also wieder in die Klinik.
Und hören wochenlang nichts von ihm. Bis er dann eines Tages wieder vorstellig wird. Er berichtet: Die Ferse war zertrümmert, mehrere Operationen folgten und der Fuß konnte glücklicherweise erhalten werden, auch ohne Spaltung. Das Kompartement konnte abgewendet werden.
Bitte anstellen: Nächster Facharzttermin in 6 Monaten
Solche Patientengeschichten erlebe ich in letzter Zeit leider des Öfteren. Sie wenden sich mit akuten Problemen an ein Krankenhaus und werden abgewiesen. Natürlich muss der Notfall auch ein Notfall sein, um behandelt zu werden. Und hier scheiden sich ja bekanntermaßen die Geister und Patienten definieren einen Notfall teilweise anders, als wir in der Medizin das tun würden.
Rückenschmerzen beispielsweise, ein häufiger Behandlungsanlass sowohl in der Praxis als auch in der Notaufnahme, sind nur ein Notfall, wenn sie mit neurologischen Symptomen wie Taubheit einer Extremität, hohem Fieber oder stärksten Schmerzen bis hin zur Bewegungsunfähigkeit einhergehen, bei Verdacht auf eine Fraktur zum Beispiel. Der seit drei Wochen bestehende Rückenschmerz durch langes Sitzen im Büro ist kein Notfall.
Eine Erkältung mit Fieber ist auch kein Notfall. Folgt dem Fieber ein Krampfanfall, dann ist es einer.
Nicht mal eine Lungenentzündung ist einer, weil man diese sehr gut ambulant behandeln kann. Es sei denn, es treten parallel starke Luftnot oder Bewusststeinseintrübung auf. In die Notaufnahme gehören alle Patienten, die stark bluten, Bewusstseinseintrübungen haben, aus großer Höhe gestürzt sind, rausguckende Knochen oder erstmalige Krampfanfälle erlitten haben.
Nicht der vereiterte Zeh, nicht der Husten seit drei Tagen, nicht der komische Ausschlag am Körper.
Das ist zugegebenermaßen nicht immer leicht zu differenzieren für Patienten und im Zweifelsfall gehen viele dann lieber mal nachgucken lassen. Viele gehen aber auch den Weg über uns Hausärzte und wir können das meiste ja ambulant behandeln.
Wenn jedoch Patienten weggeschickt werden, die ich nach Ausschöpfung aller ambulanten Maßnahmen ins Krankenhaus einweise, dann sehe ich wirklich schwarz für die Versorgung.
Wir bekommen ja auch kaum noch Facharzttermine für unsere Patienten hier auf dem Land. Natürlich gibt es die von Lauterbach viel gepriesene Hausarztvermittlung, mit der wir dringliche Patienten schnell bei einer Facharztpraxis unterbringen können. Dafür müssen wir selbst die Termine für die Patienten machen und die Betriebsstättennummer und den Grund der besonderen Überweisung zur Facharztpraxis dokumentieren. Das kann gesondert abgerechnet werden. Werden aber zu viele Sondertermine ausgemacht, dann droht die Prüfung, denn der Verdacht auf Gefälligkeitsüberweisungen besteht in solchen Fällen. Wenn also Patienten fragen, ob wir nicht für sie beim Facharzt einen Termin vereinbaren können, muss ich meistens ablehnen, es sei denn, es handelt sich zum Beispiel um dringliche onkologische oder kardiologische Termine.
Termine beim Orthopäden gibt es in meiner Gegend etwa in drei bis sechs Monaten, das ist noch einigermaßen brauchbar. Termine beim Endokrinologen werden etwa neun Monate im Vorfeld vergeben, beim Kardiologen liegen wir für Routine-Termine bei einem Jahr und für Rheumatologen brauche ich eigentlich gar keine Überweisung auszustellen. Vier Jahre Wartezeit war zuletzt die Ansage der hiesigen Rheuma-Ambulanz.
Ich sage meinen Patienten immer: „Je mobiler sie sind, um so leichter bekommen sie Termine. Im städtischen Raum ist es leichter und ggf. muss man inzwischen für einen Termin bis zum 50 km weit fahren.“
Nun wäre ich nicht Hausärztin geworden, wenn mir nicht die einzelnen Patientenschicksale und - geschichten wichtig wären, also versuche ich wirklich, für jeden sehr kranken Patienten beim Facharzt oder in der Klinik anzurufen und ihn oder sie zeitnah unterzubringen.
Das spielt jedoch natürlich auch die Zeit eine Rolle: Ich kann nicht für jeden Patienten oder jede Patientin irgendwo anrufen und Termine buchen, weil er/sie telefonisch nicht durchkommt. Oder weil die Rückenschmerzen seit Wochen bestehen, das MRT keinen schlimmen Befund gezeigt hat und die Physiotherapie nicht hilft. Ich habe oft alles ausgeschöpft, was ich hausärztlich leisten kann, habe den Notfall, den Tumor, den Bandscheibenvorfall etc. ausgeschlossen, Physiotherapie und Schmerzmedikation verordnet, zur Gymnastik und Lebensstil beraten und kann guten Gewissens behaupten: Lebensbedrohlich oder gefährlich ist es nicht, hausärztlich habe ich alles getan.
Außerdem: wenn bereits um 7:45 Uhr 15 Menschen vor der Tür stehen, dann bin ich auch zeitlich sehr eingeschränkt.
Triage incoming
Unser Gesundheitssystem ist immer mehr darauf ausgelegt, Triage zu betreiben: Was ist lebensbedrohlich und muss sofort behandelt werden? Was ist nicht lebensbedrohlich, aber gefährlich und muss zeitnah einer Versorgung zugeführt werden? Was ist zwar schmerzhaft, aber kann warten? Und was kann irgendwann mal in Ruhe behandelt werden?
So wird es in Zukunft einfach aussehen. Kleine Krankenhäuser schließen, Wartezeiten werden eingeplant werden müssen, weil Notfälle sich immer mehr in den ambulanten oder hausärztlichen Bereich verschieben, Wunschmedikamente wird es nicht mehr geben, Lieferschwierigkeiten bewirken jetzt schon eine Unterversorgung mit dringlich benötigten Medikamenten und selbst Operationen oder der Beginn einer Chemotherapie startet zuweilen verzögert.
Die Gründe sind wohl vielfältig: Zuwenig Ärzte auf dem Land und vermehrte Teilzeitarbeit in Arztpraxen, weil die Kosten für eine Praxis explodieren und man dies nicht tragen kann und will. Wie sagte mir neulich ein IT-ler aus einer großen Firma, die regelhaft Praxen aufkaufen, die keiner übernehmen möchte: „Eine Einzelpraxis, gerade auf dem Land, ist mit zu hohen Kosten verbunden, vor allem für IT und Personal, das finanzielle Risiko ist zu groß. Man braucht eigentlich dauerhafte IT-Betreuung oder jemanden, der einfach ein Nerd in der Hinsicht ist.“
Auch in den Kliniken herrscht Personalmangel an allen Ecken und Enden. Wenn kleine Krankenhäuser schließen, wenn wird der Andrang in den größeren Kliniken mehr.
Und nun mag es zwar sein, dass manche kleine Kliniken wirtschaftlich nicht gut gefahren sind, aber ich als Hausärztin merke es sehr, wenn diese Instanzen fehlen.
Die Unterversorgung ist schon gang und gäbe. Die Nullversorgung steht vor der Tür und klopft an.
Gewöhnen wir uns besser dran. Ich gebe nach wie vor mein Bestes, aber zaubern können wir Verbliebenen eben auch nicht.
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Bild: Alice12, Pixabay