Kein europäisches Land wendet mehr Geld für Gesundheit auf als Deutschland. Im europäischen Vergleich sind die finanziellen Ressourcen enorm, der Gesundheitszustand und die Lebenserwartung hingegen eher gering.
An sich geht es uns doch gut. Oder? Für einen Podcast hatte ich vor einigen Tagen recherchiert, wie hoch die Ausgaben in unserem Gesundheitswesen sind und wie wir so im europäischen Vergleich da stehen. Und auch, wenn ich die Zahlen am Ende für den Podcast nicht benötigt habe, war mein Erkenntnisgewinn enorm und ich erstaunt.
Denn kein anderes europäisches Land wendet so viel Geld für Gesundheit auf wie Deutschland. Dabei ist doch die Entwicklung in den letzten Jahren erschreckend – so empfinde ich es jedenfalls: fehlende Termine in Facharztpraxen, stundenlange Wartezeiten in Notaufnahmen, und Patientinnen und Patienten, die keine Hausarztpraxis finden.
Auch ich selbst habe mich nach reiflicher Überlegung aus dem System zurückgezogen, sodass wieder eine Ärztin weniger zur Verfügung steht. Nichtsdestotrotz beschäftige ich mich täglich mit den Stolpersteinen und dem Alltag der Niedergelassenen. Das bringt einfach mein bestehendes Netzwerk so mit sich, außerdem bin ich erst vor sechs Wochen dem ärztlichen Alltag entflohen.
Blanke Zahlen
Um einmal auf die Zahlen zu schauen: 12,6 Prozent des Bruttoinlandsproduktes werden bei uns in Deutschland für die Gesundheitsversorgung ausgegeben. Im europäischen Durchschnitt sind es 10,4 Prozent, in den USA 16,5 Prozent. Mit diesen Geldern werden unter anderem die Infrastruktur und die Personalausgaben finanziert, sodass wir mit 4,5 Ärztinnen und Ärzten und 12 Pflegerinnen und Pflegern pro 1.000 Einwohnern rund 10 Prozent mehr medizinisches und 40 Prozent mehr pflegerisches Personal haben als der EU-Durchschnitt. Allerdings sieht die Realität natürlich anders aus: überlastete Praxen, Warteschleifen am Telefon, ausgebrannte Pflegerinnen und Pfleger, steigende Kosten.
Woran liegt es, dass wir trotz der eigentlich guten Personalausstattung so überlastet sind?
Zum einen ist die Personaldecke bezogen auf die Anzahl der verfügbaren Krankenhausbetten gar nicht mehr so dick – im europäischen Vergleich hat Deutschland mit das niedrigste Verhältnis. Mit 7,7 Krankenhausbetten pro 1.000 Einwohnern liegen wir ganz oben in der Statistik, nur übertroffen von Bulgarien.
Im Vergleich dazu: Dänemark hält nur 2,4 Betten pro 1000 Einwohnern vor. Passend dazu liegt die Zahl der Krankenhauseinweisungen 40 Prozent über dem EU-Durchschnitt und auch die Zahl an vermeidbaren Einweisungen ist hoch. Viele, eigentlich ambulant behandelbare Erkrankungen wie Herzinsuffizienz, Diabetes mellitus oder COPD werden hierzulande stationär behandelt.
Meiner Ansicht nach resultieren die Einweisungen auf der Überlastung der niedergelassenen Haus- und Facharztpraxen.
Und hier beißt sich die Katze in den Schwanz: Weil unser ambulantes System überlastet ist, werden Patientinnen und Patienten teils niederschwellig in ein Krankenhaus eingewiesen, sodass dort ebenfalls eine Überlastungssituation herrscht. Patientinnen und Patienten werden oft rasch wieder entlassen, gerne mit dem Vermerkt: „Das macht der Hausarzt.“
Das könnte auch die nur durchschnittliche Qualität der stationären Versorgung erklären, wie man an Zahlen zur Mortalität bei Herzinfarkten erkennen kann. Auch die Lebenserwartung liegt unter dem EU-Durchschnitt.
Wir haben also in Deutschland viele Krankenhausbetten und einen 24/7-Zugang zum Gesundheitswesen, der auch maximal genutzt wird, aber es fehlt an Personal und auch die Qualität der Behandlung könnte besser sein.
10 Arztbesuche pro Jahr
Natürlich sollten in einem Sozialstaat medizinische Einrichtungen auch rund um die Uhr erreichbar sein, keine Frage. Dennoch muss man überlegen, ob es wirklich nötig ist, 10 mal pro Jahr zum Arzt oder der Ärztin zu gehen - das ist der Durchschnitt in Deutschland.
Aus meiner hausärztlichen Erfahrung kann ich sagen, dass ein nicht unbedeutender Anteil der Konsultationen meist nicht notwendig sind. Da aber das Gefühl der Gefahr, der Unsicherheit oder des Notfalls aus Patientensicht eine subjektive ist, habe ich als Hausärztin auch nicht darüber urteilen wollen, ob der Grund plausibel war oder nicht. Als Hausärzte sind wir ja auch dafür da, psychosoziale Betreuung zu leisten.
Die Möglichkeiten, dies zu leisten, werden allerdings immer rarer und wir werden unser Behandlungsangebot einschränken müssen, wenn die Entwicklung so weitergeht.
Auch hier lohnt sich wieder der Blick in die Statistik: Nur 16% der Ärztinnen und Ärzte nehmen an der hausärztlichen Versorgung teil - dies ist deutlich zu wenig. In vielen anderen Ländern gibt es ein Primärarztmodell, also ein System, bei dem der erste Weg des Patienten zum Hausarzt führt. Dieser leitet weitere Untersuchungen ein und ein direkter Weg in die Facharztpraxis ist nicht vorgesehen.
Damit die Katze sich also nicht permanent in den Schwanz beißt, sollten wir nicht nur Krankenhausreformen machen und kleine, finanziell nicht tragbare Krankenhäuser streichen. Das reicht nicht, da die wenigen verbliebenen Niedergelassenen dann die Patienten auffangen müssen, die nicht mehr aufgenommen werden können.
Diejenigen, bei denen es heißt: Die kann man doch eigentlich ambulant behandeln.
Ja, könnte man, wenn die Strukturen vorhanden wären. Und damit meine ich nicht, eine 24-Stunden-Notfallhotline und Fahrdienst, die gemäß des geplanten Notfallversorgungsgesetzes durch KV-Ärzte geleistet werden sollen.
Nein, es muss vorab oder wenigstens parallel die Primärversorgung massiv ausgebaut werden, zum Beispiel auch durch Bürokratieabbau und Bezahlung der durchgeführten Leistungen, um eine Niederlassung wieder attraktiver zu machen. Verbunden mit den Vorgaben für Patientinnen und Patienten, das Primärarztsystem auch zu nutzen. Mit dem HZV-System gehen viele Praxen schon diesen Weg.
Darüber hinaus wäre eine Stärkung von Gesundheitskompetenz in der Bevölkerung und ein stärkeres Augenmerk auf Prävention sinnvoll, denn gesunde Menschen müssen weniger Ressourcen in Anspruch nehmen und werden gesünder alt.
Nach dem kürzlichen Bruch der Ampel-Koalition wird es im März eine neue Regierung geben und ich blicke mit Spannung nach Berlin, wie es für unsere Gesundheitslandschaft weitergeht.
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Diese Kolumne von mir erschien zuerst (30.11.24) im Ärztenachrichtendienst und darf freundlicherweise auch auf meiner Website veröffentlich werden.
Bild: Pixabay, geralt