„Nein, nein, nein! Fuck! Bitte nicht!“
Verzweifelt stehe ich vor meinem Auto und drücke im Takt eines Schnellfeuergewehres die Taste der Fernbedienung. Aber nichts rührt sich. Mein Auto schläft friedlich und schweigt mich an. Wo ist das vertraute Klacken des Türschlosses, das fröhliche Aufleuchten der Warnblinker?
Ich drücke weiter wie eine Irre auf dem kleinen Gerät rum und fluche dabei wie ein Rohrspatz.
5:15 Uhr
Es ist 5:15 Uhr am Morgen und mein erster Tag im neuen Job - auf den ich mich wie irre gefreut habe - und mein Zug nach Hamburg fährt um 6:07 Uhr am Bahnhof ab. Der Bahnhof ist etwa 25 Kilometer entfernt von meinem Dorf.
Wie immer bin ich super pünktlich aus dem Haus gegangen, hatte am Vortag alles gepackt und fertig gemacht, so dass ich am Morgen eigentlich nur noch duschen und einen Kaffee trinken wollte. Sogar die Batterie der Autofernbedienung hatte ich gewechselt, damit ich am nächsten Morgen keine böse Überraschung erleben würde.
Großartig. Der Plan ist gründlich daneben gegangen.
Ich stelle hastig meinen Koffer ab und renne zum Haus zurück. "Der Ersatzschlüssel", denke ich. "Er wird mich retten!"
Auch vom Ersatzschlüssel hatte ich die Batterien gewechselt, weil ich ja gerade dabei war. Der muss also funktionieren! Ich greife routiniert in das kleine Schlüsselfach und ziehe schnell die Wohungstür wieder hinter mir zu. Wieder am Auto angelangt drücke ich auf die Knöpfchen. Nichts. Absolute Stille. Das Auto steht vor mir und schweigt.
„Du Schdrecksding, verdammter Mist, was stimmt nicht mit dir…!“
Ich will weinen, stattdessen verlassen Flüche meine Gehirnzellen, wandern entlang der Synapsen, biegen ab in Richtung motorische Hirnnervenkerne und verlassen meinen Mund in Dolby Surround Qualität.
5:20 Uhr
Der Notfallschlüssel! Die Fernbedienung hat zusätzlich einen mechanischen Schlüssel, mit dem man das Auto öffnen kann!
„Ich bin so schlau!“, denke ich mir, ziehe das Metallteil aus dem kleinen Kästchen und öffne die Tür. Ha!
Weil der Kofferraum sich nicht öffnen lässt, hieve ich den schweren Koffer auf den Beifahrersitz und halte die Fernbedienung an die Lenksäule. Normalerweise startet sich dann das Auto. Aber nein. Das Auto bleibt still. „Fernbedienung nicht erkannt“, erklärt mir mein Auto nur freundlich. „Bitte Bordbuch beachten!“ Ich möchte die Lenksäule treten, säße ich nur nicht so eingeklemmt. In einem Anfall von kristallklarer Intelligenz halte ich den Schlüssel noch etwa zehnmal an die Lenksäule, fluche, schimpfe und sehe mich meinen zukünftigen Arbeitgeber anrufen, dass ich den Zug verpasst habe.
Hier auf dem Land gibt es keinen Bus, den ich schnell nehmen könnte. Der Bus fährt erst ab 6 Uhr und bis zum Bahnhof müsste ich mehrfach umsteigen.
5:23 Uhr
Ein Taxi! Ich brauche in Taxi!
Die nächsten Taxi-Unternehmen sind alle etwa 8 Kilometer entfernt, aber es ist einen Versuch wert! Fünf Minuten später und drei Taxi-Gesellschaften später weiß ich: Um die Uhrzeit erreiche ich entweder keinen, oder die sind ausgebucht.
5:28 Uhr
Es ist 5:28 Uhr. Ich bin wirklich verzweifelt. Zwar habe ich einen ordentlichen Puffer für meinen Weg eingebaut und ich könnte es noch schaffen, führe ich JETZT los, aber mir fällt keine Lösung ein. Wahrscheinlich muss ich in den sauren Apfel beißen und am ersten Tag einen miesen Eindruck machen. Mein Plan ist also, um 9 Uhr zur Werkstatt zu laufen, die zum Glück im Ort ansässig ist, den Schlüssel reparieren zu lassen und dann eben mit dem Auto die über 500 Kilometer zu fahren.
Ein letzter Gedanke kommt mir aber noch: Google! Google weiß alles. In einem Forum stöbere ich nach der Antwort auf meine tote Batterie. Da schreibt jemand: „Wechsle die Batterie nochmal, manchmal sind die überlagert.“
Ich glaube zwar nicht daran, weil ja beide Schlüssel mit neuen Batterien ausgestattet wurden und beide dennoch nicht funktionieren, aber gut.
„Batterien, ich hab noch Batterien.“ Mein Hirn arbeitet auf Hochtouren. Also renne ich wieder in die Wohnung. Inzwischen hat mich meine Rücksicht auf die noch schlafenden Nachbarn im Haus verlassen und die Haustür fällt geräuschvoll ins Schloss.
5:29 Uhr
Hektisch krame ich die Kiste durch, die im Flurschank steht und finde noch zwei Stück. Gestern hatte ich auch ganz neue aus der Verpackung gepuhlt, es ist mir ein Rätsel, warum meine Schlüssel nicht funktionieren.
Zurück zum Auto. Schon auf dem Weg dahin halte ich den Schlüssel nach vorne und tippe wie wild - Klack, Blink! Da ist es, meine Rettung, das geliebte Geräusch.
Stoßgebete in den Himmel schickend steige ich schnell ein, fahre rückwärts aus der Garage und überlege noch, diese einfach offen zu lassen. Aber nein, erstens bin ich ein paar Tage weg und zweitens macht man sowas auf dem Dorf einfach nicht. Wo kämen wir denn dahin, wenn jeder seinen Garage offen ließe?
5:32 Uhr
Es ist 5:32 Uhr. Mit 160 km/h rase ich über die Autobahn, das Navi verspricht eine Ankunftszeit von 5:53 Uhr. Das schaffe ich! Ich muss zwar noch auf den Dauerparkplatz und ein Ticket kaufen, aber wenn ich auf Kaffee und Brötchen verzichte, dann klappt das. Dann habe ich eben Hunger bis Hamburg.
5:53 Uhr
Wie vom Navi vorausgesagt komme ich um 5:53 Uhr am Bahnhof an. Der Parkplatz ist leer, so dass ich direkt am Automaten parken kann. Es ist stockdunkel und mein Handy muss mir das zerkratze Display des Ticketautomaten beleuchten.
"Stecken Sie die Karte ein und drücken Sie die grüne Taste, bis Sie am entsprechenden Datum angekommen sind", steht in der Beschreibung.
Mit einer Hand halte ich das leuchtende Handy, mit der anderen Hand fummle ich meine Bankkarte aus dem Geldbeutel und führe sie in den Automaten ein. Dann drücke ich die Taste: 6:53 Uhr; 7:53; 8:53…. „Du Mist-Ding!“ So viel geflucht habe ich schon lange nicht mehr. Ich hämmere wie eine Bekloppte auf den grünen Knopf, der die benötigte Parkdauer nur im Stundentakt anzeigt. Plötzlich springt die Anzeige um und zeigt mir das Datum eine Woche in der Zukunft. Nein! Argh. Zurück.
Endlich bin ich beim richtigen Datum und der Automat rattert. „Vorgang abgebrochen.“
Ich hatte es befürchtet. Seitdem meine Bankkarte von EC- auf Girocard gewechselt wurde, habe ich oft Probleme an Automaten und EC-Geräten.
"Dann eben mit Bargeld", sage ich mir und krame den Betrag von 16,50 Euro aus dem Portemonnaie. Der Automat kichert schadenfroh und zeigt mir den Vogel. Es gibt nur einen Münzschlitz, meine Scheine will er nicht.
5:55 Uhr
Zum Glück habe ich aber eine Kreditkarte! Die brauche ich allerdings so selten, dass ich den PIN nicht mehr weiß. Mit letzter Verzweiflung probiere ich das Ding aus, muss die grüne Taste erneut 28 mal drücken und das Gerät verlangt eine PIN.
Weinen. Ich will weinen.
Ohne Parkticket wird das hier eine teure Angelegenheit, denn die Betreiber sind eine der privaten Parkgesellschaften, die unfassbar unverschämte Preise für fehlende Ticktes verlangen. Aber ich brauche den Parkplatz. Gerade, als ich die PIN, an die ich mich so nebulös erinnere, eingeben will, wird das Ticket ausgedruckt.
Ich atme erleichtert aus. Wie stressig kann ein Morgen bitte sein?? Der Morgen so: hrhr.
5:57 Uhr
Es ist 5:57 Uhr. Noch zehn Minuten, dann fährt der Zug. Meine innere Anspannung lässt etwas nach, den Zug erwische ich noch!
Da bekomme ich einen Mitteilung auf’s Handy: "Ihr Zug fährt heute fünf Minuten später ab." Auf die Unpünktlichkeit der Bahn ist doch Verlass! Dann kann ich mir sogar noch einen Kaffee und Frühstück kaufen.
6:05 Uhr
Endlich bin ich am Bahngleis angekommen. Mit einem Blick auf die Uhr stelle ich fest, dass ich es auch ohne Zugverspätung noch geschafft hätte. Gerade so, aber ich hätte es hinbekommen. Ich bin gerade sehr froh, dass ich immer ordentlich Zeit für solche Reisen einplane.
Mit einem frischen Kaffee in der Hand, lese ich an der Anzeigetafel: „Ab 9 Uhr wird der Zugverkehr aufgrund der Entschärfung einer Fliegerbombe eingestellt.“
Was für ein Tag! Ich genehmige mir einen großen Schluck Kaffee und verbrenne mir gehörig die Zunge. Der Kaffee ist so heiß, dass ich den Schluck am liebsten ausgespuckt hätte, aber am Gleis mit so vielen Menschen wäre das ordentlich peinlich gewesen.
6:11 Uhr
Um 6:11 Uhr sitze ich endlich im Zug. Die Zugfahrt verläuft ruhig, lesend und dösend und um 10:30 Uhr bin wie geplant in der Redaktion, wo ich eine eine tolle Einarbeitungszeit verlebe.
Drei Tage später
Drei Tage später stehe ich wieder an meinem Auto. Schon von weitem sehe ich ein Liebesbriefchen unter meinem Scheibenwischer. Na fein. Es ist ein Strafzettel, weil das Ticket nur bis zum Morgen des Ankuntstages gelöst war. Nun ist es Abend.
In der Eile hatte ich einmal zu wenig auf den Knopf gedrückt. 45 Euro verlangt die Abzocker-Parkgesellschaft als "Mahngebühr", zusätzlich zum Tagespreis. Ich atme tief durch. Es ist egal. Ich hatte tolle Tage und bin wieder gut zuhause gelandet.
Und Medizinredakteurin darf ich mich jetzt nennen. Dafür hat sich der Stress gelohnt.