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"Man hat mir Erdbeeren versprochen...!"

Es war vor mehr als 20 Jahren (Grundgütiger, war ich jung!) , als ich mit dem Medizinstudium begann.

Damals musste man - aber das wird heutzutage nicht anders sein - gleich zu Beginn ein Pflegepraktikum im Krankenhaus machen machen. Waschen, Betten machen, Patientinnen und Patienten füttern: Damals mochte ich es gar nicht, was aber mit meinem jungen Alter zu tun hatte. (Habe ich erwähnt, dass ich echt jung war?)

 

Das frühe Aufstehen, sich in etablierte, hierarchische Strukturen einfügen, das kleinste Licht im Raum zu sein -  das muss man als junger Mensch aushalten und es tut einem in der Entwicklung ja auch mal ganz gut, dass es so ist. Im Nachhinein habe ich viel gelernt. Natürlich auch, was die Strukturen und Abläufe in einem Krankenhaus angeht, wie Krankenschwestern arbeiten, und vor allem, wie hart sie arbeiten. Die "Krankenschwester" ist nicht despektierlich gemeint, damals war das noch die Berufsbezeichnung. "Ich bin Schwester Helga", war eine normale Vorstellung im Patientenzimmer. 

 

Leider waren damals auch ganz schön blöde "Schwestern" dabei, die mich tatenlos auf dem Gang stehen ließen, mir nichts beibrachten und wenn ich mich zu ihnen gesellte, fragten: „Is irgendwas?!“ Augenrollen inklusive.

Später im Studium habe ich dann in der Pflege gearbeitet und mich wohl gefühlt, aber das muss ich in einer anderen Geschichte erzählen.

Schlafmief und Stuhlgang

 

Jedenfalls war ich damals auf einer chirurgischen Station, was ich auch hochinteressant fand und ich naiv darauf geierte, Verbände zu wechseln und vielleicht auch mal in den OP gehen zu dürfen. Aber Pustekuchen! Das waren nicht meine Aufgaben. 

 

Mein Job als Praktikantin war es, mit den Pflegeschülerinnen und - schülern morgens durch die Zimmer zu gehen, die Vitalzeichen wie Blutdruck, Puls und Temperatur zu messen und den Stuhlgang zu dokumentieren („Hatten Sie heute schon Stuhlgang??“ - Wer hat denn morgens um halb sieben schon Stuhlgang gehabt?!).

 

Was ich gar nicht mochte, war, in die schlafmiefigen Zimmer zu kommen. Viele Menschen schlafen gerne mukkelig warm und miefig, und so rissen wir am frühen Morgen die Fenster auf und die armen Menschen aus den Betten. Es tat mir immer leid, wenn ich sie wecken musste. Schließlich hatten die meisten im Krankenhaus ja nicht sonderlich viel zu tun und ich hätte sie gerne schlafen lassen. 

 

Es war ein kleines Krankenhaus der Grund- und Regelversorgung, das heißt, es waren viele alte Menschen dort, die sich verschienenste Blessuren bei Stürzen eingefangen hatten, oder die mehrere Tage nicht zur Toilette gehen konnten und mit Verdacht auf Darmverschluss oder Subileus („kurz vor Darmverschluss“) zur Diagnostik und zum Abführen in die kleine Klinik kamen. 

Aber auch Schenkelhalsfrakturen gab es einige. Der Bruch des Oberschenkels war sozusagen der Klassiker. 

 

Herr Rath war sehr pflegebedürftig

 

Ein Mann, der eine solche Fraktur hatte, war Herr Rath. Ich nenne ihn einfach mal so. Denn abgesehen davon, dass ich nach über 20 Jahren (Gott, war ich jung), den Namen nicht mehr weiß, dürfte ich ihn ja sowieso nicht verraten. 

 

Ich weiß aber noch, dass Herr Rath riesig war. Ein schlanker, aber kräftiger, alter Mann, der leider aufgrund eines Schlaganfalls schwer pflegebedürftig war. Sein Kopf funktionierte noch prächtig, sein Körper aber versagte ihm den Dienst. Er konnte nur mühsam sprechen, er musste gewaschen und ihm musste das Essen angereicht werden. 

 

Das gehörte auch zu unseren Aufgaben: Nachdem wir die Runde mit dem Messen der Vitalzeichen und dem Entfernen des Schlafmiefs aus den Zimmern erledigt hatten, holten wir uns Waschschüsseln und halfen den Patientinnen und Patienten bei der Körperpflege. Manchmal musste man nur etwas Hilfestellung leisten, andere Personen konnten nichts mehr selbst tun und wurden von Kopf bis Fuß gewaschen.

 

Bei Herrn Rath war es auch so. Der große und schwere Mann hatte beim Sturz aus dem Bett eine Oberschenkelhalsfraktur erlitten und lag nun hilflos im Bett, noch hilfloser als vorher. Eine FSJ-lerin (Freiwilliges soziales Jahr) war oft mit mir in dem Zimmern, weil das Waschen des großen und schweren Mannes nicht einfach war. 

 

Sie war immer extrem genervt, was mir für ihn sehr leid tat. Ich gebe zu, Menschen zu waschen war nicht meine Lieblingsaufgabe. Nicht, weil ich nicht helfen wollte oder weil ich mich ekelte oder dergleichen. Nein, ich hatte einfach immer das Gefühl, die persönlichste und intimste Schwelle zu überschreiten und die Pflegebedürftigen in eine unangenehme Situation zu bringen. Was man natürlich getan hat, denn wer will schon am ganzen Körper hilflos von mehreren Menschen gewaschen werden. 

 

Aber auch dafür war das Praktikum gut, weil man lernte: Das ist wichtig und mit dem richtigen Verhalten kann man den Menschen gegenüber viel Gutes tun.

 

"Ich würde so gerne mal wieder Erdbeeren essen"

 

Herr Rath musste auch gefüttert werden. Diese Aufgabe war nach dem Waschen an der Reihe und weil viele Menschen auf dieser Station Hilfe beim Essen benötigten, teilten wir uns alle auf. 

 

Eines Tages war ich bei Herrn Rath, und obwohl er nicht mehr ohne große Mühen sprechen konnte, unterhielten wir uns ein wenig über dies und das. Ich erfuhr, dass er einen hohes Tier in seiner beruflichen Branche war und er erzählte mir von seinem Leben. 

 

Irgendwann sagte er unvermittelt: „Ich würde so gerne mal wieder Erdbeeren essen. Ich habe seit Jahren keine mehr gehabt.“ Das tat mir in der Seele weh. Ich murmelte: „Morgen bringe ich Ihnen welche mit“, aber er reagierte nicht.

 

Versprechen müssen gehalten werden

 

Ob er es wahrgenommen hatte, wusste ich nicht, aber als ich am Nachmittag mit der Arbeit fertig war, ging ich zum Supermarkt und kaufte ein paar Erdbeeren. 

Ich muss zugeben, dass ich nicht schlüssig war, ob ich es wirklich machen sollte. Ich war damals jung (Gott, so jung) und pleite. Immer. Ich war sozusagen arm (ernst gemeint). Aber ich hatte ein Versprechen abgegeben und so fand ich ein paar Erdbeeren, die ich mir leisten konnte. 

 

Am Folgetag hatte ich die Erdbeeren in meine Tasche gepackt und meine Schicht angetreten. Ich kriegte es aber aufgrund meines jungen Alters nicht hin, offen darüber zu reden, dass ich dem Herrn Rath etwas mitgebracht hatte und versteckte die Früchte - eigentlich sind Erdbeeren ja Nüsse, aber das nur am Rande - in meiner Tasche. Als wir aber diesmal zu zweit, nämlich die FSJ-lerin und ich, den Herren beim Essen unterstützen, sagte er unvermittelt und mit Nachdruck: „Man hat mir Erdbeeren versprochen!“

 

Das war mein Signal. Ich erklärte ihm, dass ich sie holen würde und das tat ich dann auch. 

Wir musste die Früchte klein matschen, weil er eigentlich nur ganz weiche Kost zu sich nehmen konnte. Die FSL-lerin ließ ihrem Unmut freien Lauf: „Auf solche Scherze habe ich eigentlich keinen Bock!“, und ich fragte mich, was daran eigentlich so schlimm war. Ob wir jetzt matschiges Toast oder matschige Erdbeeren anreichten, das war doch eigentlich schnuppe. 

 

Herr Rath reagierte nicht drauf, sondern aß still seine Erdbeeren. Ich hoffe, es hat ihm irgendwie ein kleines bisschen Freude bereitet. 

 

Hilflosigkeit kann jeden treffen

 

Und obwohl es über 20 Jahre her ist und ich sehr jung war (falls ich es nicht erwähnte), bleibt mir diese Geschichte bis heute im Kopf und ich bin froh, dass ich meine Unsicherheit damals überwunden habe. Es hat mein Verhalten und meine Einstellung geprägt. Denn ich fragte mich damals schon, warum ich nicht offener mit meinem Wunsch, ihm zu helfen, umgegangen war. Warum ich gegenüber der FSJ-lerin nicht mehr Kante gezeigt habe. 

 

Denn eines mir damals schon klar: Wer weiß, ob wir nicht irgendwann einmal hilflos im Bett liegen und uns Erdbeeren wünschen. 

 

Letztlich hat es mich verändert. Herr Rath ist seit vielen Jahren nicht mehr auf dieser Welt ist, aber damals hat er auch hilflos im Bett liegend noch eine wichtige Aufgabe erfüllt, die seine Spuren auf der Welt hinterlassen hat.

 

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Bild: Pixabay, alipub